Aktuell – 01.02.2016

"No Problem" – Recherchereise im Land der vielen Sprachen

Reise organisieren, Labtop weg, Polizeistation: Aus dem ganz normalen Arbeitsalltag einer Korrespondetin während einer Recherchereise in Indien. Von Karin Wenger.

Es ist wie im Bollywood-Film, bloss: Ich stecke mitten drin, in der Polizeistation von Vadakkekad an der Küste von Kerala (Indien). Unser Fahrer ist vor zwei Stunden mit unserem Laptop, der Kamera und den Aufnahmegeräten geflohen. Sein Mobiltelefon ist ausgeschaltet, und sein Chef in Bangalore beantwortet die Anrufe nicht. Die drei Polizisten haben das Wagenkennzeichen aufgeschrieben, auch die Nummer des Fahrers und die seines Chefs in Bangalore. Jetzt schauen sie mich ratlos an: "Madam, die sprechen Kannada, wir Malayalam, selbst wenn wir sie anrufen, können wir nicht mit ihnen sprechen", übersetzt der Kellner des Hotels, der mit mir mitgekommen ist und dessen T-Shirt mit Hindi-Worten bedruckt ist, die er aber nicht versteht, weil er nur Malayalam und Englisch spricht. Die Polizisten können nur drei englische Worte: "No problem Madam." Das sagen sie und machen sich jetzt fieberhaft an die Arbeit, geben den Polizeistationen in Kerala das Autokennzeichen des flüchtigen Fahrers durch. "Wir schnappen ihn, bevor er nach Karnataka rüber fährt! No problem." Wie wohl, frage ich mich. Ich habe auf der ganzen Reise kaum je einen Polizisten gesehen. Und auch hier verwandelt sich die fieberhafte Suche bald in Neugier: "Madam, you Switzerland? Switzerland! Roger Federer. We love Federer! Madam, you married?"

Das Problem begann bereits in Delhi. Ich hätte die Warnsignale beachten müssen, beschloss jedoch, sie zu ignorieren. "Tour My India" heisst das Reiseunternehmen, das meiner Schwester vor einem Jahr eine perfekte Indien-Reise organisiert hatte. Ich war überzeugt, dass sie in der Lage seien, dasselbe für mich zu tun, zumindest das Auto für meine letzte Recherchereise durch Südindien könnten sie organisieren. Akib, mein Übersetzer und Junge für alles und ich würden in Bangalore starten, einige Tage dort Geschichten recherchieren und dann via BRT-Tigerreservat nach Kerala fahren, bis nach Chavakkad, wo wir heute angekommen sind. Doch die Kommunikation lief nicht gut, die E-Mails wurden jeweils erst Tage später beantwortet und immer wieder von jemand anderem. Schliesslich erhielten wir die Offerte: 21’600 INR, gut 300 Franken würde das ganze Unterfangen kosten, von Bangalore nach Chavakkad. Die Hälfte überwies ich Tour My India in Delhi, die andere Hälfte würde ich am Ende der Reise dem Fahrer aushändigen. Dessen Fahrstil war allerdings gewöhnungsbedürftig. Patsanna fuhr mit nervösem Fuss, so dass mir ständig übel war. Zudem pflegte er im Auto zu schlafen und schien sich nie zu waschen. Aber einen anderen Fahrer hatte die Reiseagentur in Bangalore nicht. Dort trafen wir Sri Sri Ravi Shankar, einen indischen Guru, der in der ganzen Welt Millionen von Anhängern hat; wir fuhren aufs Land zu einer Dalit-Köchin und in ein Altersheim, um den sozialen Wandel zu dokumentieren. Einen Vormittag verbrachten wir mit Jungunternehmern, die es als erste in Indien geschafft haben, mittels 3D-Technologie menschliches Lebergewebe herzustellen. Noch einmal Indien in seiner grossen Fülle und Vielfalt. Dann ging’s Richtung Tigerreservat, wo wir zwar keine Tiger, dafür kopulierende Elefanten sahen und eine ganz andere Geschichte vorfanden, als wir sie vorher recherchiert hatten – so wie oft hier, wo die Realität immer komplizierter und vielschichtiger ist, als die Geschichten in den englischen Zeitungen. Schliesslich landeten wir in Kerala, im Land der Kokosnüsse, wo immer weniger Jungs auf die Palmen klettern wollen, um die Nüsse herunter zu holen. White collar jobs sind in, keine schlecht bezahlten Klettereien. Deshalb sprachen wir mit Frauen, die sich jetzt langsam diese ehemalige Männerdomäne erobern.

Und dann landen wir in Chavakkad, 19.00 Uhr abends. Das Gepäck ist ausgeladen, bis auf den Rucksack mit dem Laptop, der Kamera und den Mikrophonen. Der Fahrer sagt: "42‘000 Rupees müsst ihr zahlen!" – "Wie bitte? Das Doppelte?" – "Mehr Kilometer, mehr Stunden." – "Aber das war nicht der Deal. Der Deal, hier schau, schwarz auf weiss: 21’600 INR für den ganzen Trip, inklusive Steuern und Spesen des Fahrers." Der Fahrer ruft seinen Chef in Bangalore an, der droht mit der Polizei. Ich rufe Tour My India an, und Harry, der Chef sagt: "Das ist nicht mein Problem. Regle es mit dem Unternehmen in Bangalore." – "Aber du hast uns diesen Mist eingebrockt. Das war unser Deal!" Wir diskutieren eineinhalb Stunden auf dem Parkplatz des Hotels. Wir mit dem Fahrer, der Fahrer mit seinem Chef, ich mit dem Chef, der Chef mit Harry, Harry, der Chef und ich über Konferenz-Call. Der Chef in Bangalore beschwert sich über Delhi. Von der vereinbarten Summe habe er bis jetzt noch keine Rupie gesehen. Dann beantwortet Harry den Anruf nicht mehr. Emotionen wallen hoch. "Ich hole die Polizei!", ruft der Fahrer. "Tu das! Wir warten hier", antworte ich. Der Fahrer steigt ein. Einen Rucksack kann ich noch aus dem Auto retten, doch dann schliesst er schnell das Auto ab und braust mit offener Hecktür davon – mit dem Laptop, der Kamera, den Mikrophonen. Was nun?

Ramesh heisst der Angestellte des Hotels, der eben noch den letzten Hotelgästen den ayurvedischen Nachtisch serviert. Es ist nach 21.00 Uhr, und Taxis kommen nicht mehr in dieses abgelegene Hotel. Ramesh hat zwar keinen Führerausweis, aber ein Moped, und damit bringt er mich zur Polizeistation. Akib bleibt im Hotel.

21.45 Uhr. Alle Polizeistationen sind nun informiert. Ich schicke eine SMS an den Reiseagenten in Bangalore: "Bin in der Polizeistation. First Information Report, FIR, gemacht." Sofort kommt die Antwort per SMS: "U r not my booking. U booking Tour my India. Tour my India do not send any amount for your booking till now. There is no fault of me. Why ur Harris me? I request Tour my India to solve your problem. But there is not respond coming from tour my India Delhi." Harry von Tour my India beantwortet den Anruf immer noch nicht. Ich schicke ihm eine SMS. Seine Antwort: "You can sorted out after paying amount, finally u used car extra at bangalore."

Der Polizeichef wird vom nahen Tempelfest auf die Station gerufen. T.S. Raneesh, Polizeichef der Vadakkekad Polizeistation, rast in seinem Jeep herbei. Breite Schultern, schwarzer, buschiger Schnurrbart, Kinn in der Luft. Er weiss, dass er Macht hat, dass man sich vor ihm fürchten kann. Die Sache ist schnell erklärt, das erste Lächeln entlockt. Und – Gott sei Dank – er spricht Englisch. Er ruft den Fahrer an. Dessen Telefon ist längst ausgeschaltet. Dann ein, zwei, drei Versuche in Bangalore. Die Leitung will nicht zustande kommen. Dann: "Hello, Sir", es scheint als denke er kurz an die Polizei-Dialoge aus den Filmen: "This is Superintendant of Police, Kerala! Wo are you?" Pause. "Ihr Fahrer ist mit dem Laptop und der Kamera und so von Karin Mirjam Wenger geflohen." Pause. Er hält meinen Pass aufgeschlagen eine Armlänge entfernt, holt Luft und dann mit tiefer, rauer Stimme: "Wissen Sie was das bedeutet? Diebstahl! Diebstahl an einer Ausländerin in unserem Land! Ist Ihnen die Ernsthaftigkeit dieses Verbrechens bewusst?" Es wird still am anderen Ende der Leitung. T.S. Raneesh zwinkert mit einem Auge, grinst, donnert dann weiter: "Sie schicken jetzt sofort den Fahrer zurück. Er soll sich bei uns melden, mit dem Laptop und – …Madam, was war da noch in der Tasche?" – "Kamera, Aufnahmegeräte." – "Ah yes. Sir, Kamera und Aufnahmegeräte, alles kommt auf der Stelle zurück!" Innerlich sehe ich den Reiseagenten, wie er die Faust ballt und dann die Schultern hängen lässt, zusammenzuckt. Chefpolizist Raneesh legt das Telefon auf den Tisch und grinst wieder. Dann wendet er sich an Ramesh, den netten Hoteljungen, und herrscht ihn an: "Du hättest uns sofort rufen müssen. Das sind doch Gäste in unserem Land."

Dann gehen wir alle zusammen zum Tempelfest. Schliesslich müssen wir warten, bis der Fahrer zurückkommt. Das kann dauern. Vor dem Tempel spielt eine Band popige Musik und dann zum Abschluss die indische Nationalhymne. Plötzlich bricht Ramesh in Tränen aus: "Morgen ist Republic Day, aber nicht für mich! Ich werde meinen Job verlieren! Ich habe die Polizei nicht rechtzeitig gerufen!" –"Alles wird gut Ramesh", versuche ich ihn zu beruhigen und wende mich wieder an Polizist Raneesh: "Jetzt sagen Sie doch dem Jungen, dass alles gut wird, dass Sie es nicht so gemeint haben!" Raneesh grinst schon wieder. Die Nationalhymne ist verklungen. Ramesh wischt sich die Tränen ab. Akib ruft an: "Der Bangalore Chef rief an und sagte, wenn wir?? bezahlen, können wir unser Gepäck in Bangalore abholen – nur gegen Cash." Doch dann kommt der Fahrer zurück zum Hotel und übergibt Akib die Tasche. Akib ruft wieder an. "Wir kommen zur Polizeistation. Aber lass uns nicht zu hart sein. Seine Frau ist schwanger."

Und so stehen wir dann alle im Polizeihauptquartier, beleuchtet von einer grellen Neonröhre. Raneesh sitzt breitbeinig am Tisch. Der Fahrer lässt den Kopf hängen. Ramesh hat sich in eine Ecke verdrückt, Akib und ich sind Beobachter in diesem bizarren Spiel, in dem alle eine andere Sprache sprechen. Polizeichef Raneesh will den Fahrer anherrschen, aber weiss nicht wie. Da sagt er auf Englisch: "Bist du dir bewusst, wie gravierend das war, was du getan hast? Ausländer bestehlen?" Der Fahrer schaut ihn mit leeren Augen an, verständnislos. Er spricht doch nur Kannada und ein wenig Hindi. "Sorry Sir, so sorry Sir…" Da greift Raneesh wieder zum Telefon, ruft wieder Bangalore an. "Hören Sie, wenn Sie Geldprobleme haben, dann klären Sie das mit Delhi. Die Ausländerin hat in Delhi gebucht, hier steht’s schwarz auf weiss. Schönen Abend." Problem gelöst. "Und was machen wir mit dem?", fragt er und zeigt auf den Fahrer. "Den lassen wir jetzt gehen."– "Einfach gehen? Ihr verzeiht ihm so einfach? Tsss."

Am Ende will Polizeichef Raneesh noch ein Selfie mit mir. Ich mache ein Gruppenfoto. Ramesh fährt mit seinem Roller zum Hotel zurück, wir im Polizeiauto. Ramesh hat die nächsten Tage frei, weil seine Schwester heiratet. Als wir nach Mitternacht im Hotel ankommen, schickt Raneesh eine SMS: "Send me group picture." Wenig später schickt der Autobesitzer aus Bangalore, der uns sofort mit Polizei gedroht hatte, eine SMS: "Dear Karin. Wenger you are guest of our country but u coming. From direct tour my India. Mr. Harendra Rawat is your direct tour guide. I just help them to arrange the car. But unfortunately I haress from u because u gave my number to polish." Um 02.55 Uhr folgt die SMS von Harry aus Delhi: "He will show you bill for extra running and give your bag." Aber die sehe ich erst am Morgen. Ich lösche sie und auch Harrys Nummer. Doch es ist mir wohl bewusst, dass das Ende nichts mit Gerechtigkeit zu tun hat. Wäre ich Inderin, hätte ich dunkle Haut, dann wäre das Auto nun zurück in Bangalore – mit unserer Tasche.

Karin Wenger ist Südostasienkorrespondentin für Radio SRF

Wenger Indien 3 IMG_2663Bilder: Karin Wenk

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