Die Leistungen der Pflegenden für die Gesundheitsversorgung sind kaum Thema in der Berichterstattung. Foto: AdobeStock

Aktuell – 11.03.2019

Auf einem Auge blind

Die Berichterstattung über das Gesundheitswesen dreht sich mehrheitlich um zwei Themen: Kosten und ärztliche Leistungen. Die Pflege wird von Medienschaffenden hingegen mehrheitlich ignoriert. Warum ist das so? Und was sind die Folgen?

Von Martina Camenzind

Am 7. November 2017 ist der Berner Bundesplatz bevölkert mit Hunderten von Frauen und Männern im Pflegekittel. Der Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner SBK reicht die Unterschriften für die eidgenössische Volksinitiative für eine starke Pflege ein. Jubelnd begleiten die Anwesenden Nationalrätin Bea Heim und SBK-Präsidentin Helena Zaugg und andere Vertreterinnen des Initiativkomitees zur Bundeskanzlei. Das Schweizer Fernsehen ist mit Kamera vor Ort.

Abends um 19 Uhr 55: Ernüchterung. Die Tagesschau hat die Einreichung mit keinem Wort erwähnt. Man habe den Beitrag «vergessen», erklären die Verantwortlichen von SRF später. Auch im Westschweizer Fernsehen: Fehlanzeige.

Die Unsichtbaren. Das Beispiel ist symptomatisch für die Beziehung zwischen den Medien und der Pflege. Zwar sind Pflegende – also alle, die in diesem Bereich arbeiten – schon rein zahlenmässig die grösste Gruppe der Beschäftigten im Gesundheitswesen. Ihre Arbeit, ihre Leistungen und ihr existenzieller Beitrag für die Gesundheitsversorgung sind jedoch nur am Rand ein Thema in der Berichterstattung.

Die amerikanische Pflegefachfrau und Professorin für Gesundheitspolitik Carole R. Myers fragte letzten Sommer im Online-Medium STAT: «Pflegefachpersonen spielen eine vitale Rolle im Gesundheitswesen. Warum sind sie in den Medien unsichtbar?»

Myers bezieht sich in ihrem Artikel auf zwei Studien, die im Abstand von 20 Jahren Artikel aus der Berichterstattung über das Gesundheitswesen analysierten und Journalisten befragten, weshalb Pflegefachpersonen kaum zu Wort kommen. Das verkürzte Fazit: Pflegefachpersonen werden nicht als Expertinnen wahrgenommen. Es sind also mehrheitlich Frauen, sie sind nicht auf dem Radar der meist männlichen Journalisten – Männer befragen bevorzugt Männer und zudem oft diejenigen, die bereits in den Medien präsent sind.

Die Diskrepanz. Ich arbeite seit bald acht Jahren in einer Doppelfunktion für den SBK. Zum einen als Redaktorin für die Fachzeitschrift Krankenpflege, zum anderen betreue ich die Medienarbeit. Die Diskrepanz zwischen den beiden Arbeitsbereichen ist frappant: In der Zeitschrift publizieren wir mehrheitlich von Pflegefachpersonen aus allen Versorgungsbereichen geschriebene Beiträge. Es handelt sich um Projekte zur Verbesserung der Mundgesundheit in Pflegeheimen, um die Vermeidung von Stürzen, die schnellere Genesung nach chirurgischen Eingriffen, um nur einige Beispiel zu nennen – der Fokus ist breit, die Vorteile für die Patienten oft erheblich. Mehr noch: Nicht selten tragen sie dazu bei, Kosten zu vermeiden. Kosten, über die alle jammern, die «explodieren», zu steigenden Krankenkassen­prämien führen.

Stürze etwa sind ein grosses Problem bei älteren Menschen. Fast 400 000 der über 65-Jährigen stürzen einmal pro Jahr, ein Zehntel davon zieht sich dabei eine Hüftfraktur zu. Eine Totalprothese kostet 22 000 Franken. Die Vermeidung von Stürzen – durch Abklärung der Gangsicherheit, Förderung der Mobilität, die Entfernung von Sturzfallen in Haushalten: alles Dinge, die Pflegefachpersonen tun – führt schnell zu Einsparungen in Millionenhöhe.

In der Medienarbeit esse ich hingegen sehr hartes Brot. Unsere Medienmitteilungen finden kaum Resonanz, auch wenn das Thema von Interesse wäre. Zum Beispiel die Resultate einer Studie, die nachweist, dass das Sterberisiko für Patienten im Spital steigt, wenn zu wenig qualifiziertes Pflegefachpersonal vor Ort ist. Die Stellungnahme des SBK zur derzeit viel diskutierten einheitlichen Finanzierung von ambulanter und stationärer Pflege? Null Echo. Die Kritik des SBK an der bundesrätlichen Evaluation der Pflegefinanzierung? Praktisch kein Interesse.

Die undifferenzierte Masse. In der Schweiz arbeiten fast 190 000 Personen in der Pflege. Etwa 91 000 von ihnen sind diplomierte Pflegefachpersonen. Sie haben eine Ausbildung auf Tertiärstufe, an einer höheren Fachschule (HF) oder Fachhochschule (FH) abgeschlossen. 27 500 sind Fachpersonen Gesundheit (FaGe) oder Fachpersonen Betreuung (FaBe) mit Eidgenössischem Fähigkeitszeugnis (EFZ). Dazu kommen rund 23 400 AssistentInnen Gesundheit und Soziales (AGS) mit Berufsattest EBA. Der Rest hat eine andere oder keine Ausbildung.

Diese Personen haben also unterschiedliche Ausbildungen und damit je eine offizielle Berufsbezeichnung. Sie haben sich in ihren jeweiligen Ausbildungen das Wissen angeeignet, um die Aufgaben, die sie übernehmen müssen, auch übernehmen zu können. Das ist wichtig, denn Patientinnen und Patienten sind nicht einfach zum Spass im Spital, sondern weil sie ein gesundheitliches Problem haben, das in schwerwiegenden Fällen zum Tod führen kann – und sie benötigen Pflege, denn sonst könnte die Behandlung auch ambulant erfolgen.

Die Folgen der medialen Nichtbeachtung der Pflege sind fatal.

Trotzdem wird das Pflegepersonal in den Medien nicht selten in den gleichen Topf geworfen. Der «Blick» und auch die NZZ schreiben meist von den «Pflegern». Aus einer Küchenhilfe, die mit einer verstorbenen Pflegeheimbewohnerin auf Facebook posierte, wird eine «Todespflegerin» («20 Minuten»).

Eine FaGe, die während des Nachtdiensts in einem Pflegeheim zusammen mit einer Komplizin eine Bewohnerin tötete, wurde «Nachtschwester» genannt. Im französischsprachigen «20 minutes» wurden aus «Pflegerinnen» «infirmières», die französische Übersetzung für «Pflegefachfrauen», obwohl in diesem Fall (einer versuchten Tötung einer Pflegeheimbewohnerin im Kanton Baselland) der Beruf der Frauen nicht bekannt war. Es ist bezeichnend, dass diese schockierenden Fälle hier als Beispiel dienen müssen, Skandale werden von den Medien gerne aufgenommen.

Eine Frage der Berufsethik. Falls ich Zeit habe, mache ich die jeweiligen Medien auf solche Fehler aufmerksam, meist ohne Erfolg. Das sei «Alltagssprache», ein «Detail» oder eine «Unschärfe». Auch ohne Verweis auf Punkt 5 der auch von mir unterschriebenen «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» finde ich das eine fragwürdige Einstellung. Wäre die Antwort die gleiche, wenn es um die Unterscheidung eines Architekten, von einer Ingenieurin und von Hochbauzeichnern ginge?

Medienschaffende betonen zu Recht ihre wichtige Rolle für die öffentliche Meinungsbildung. Bei der Berichterstattung über das Gesundheitswesen, dessen Leistungen wir mit grosser Wahrscheinlichkeit alle einmal in Anspruch nehmen müssen, gibt es noch einiges zu tun. Denn die Folgen der medialen Nichtbeachtung der Pflege sind fatal, sie tragen unter anderem zum schon jetzt gravierenden Fachkräftemangel in der Pflege bei.

Wie sollen sich zum Beispiel junge Leute für eine Berufslaufbahn in der Pflege entscheiden, wenn klischierte Vorstellungen portiert werden, die auch TV-Serien wie Grey’s Anatomy befeuern? Oder wenn lediglich der Stress in der Pflege thematisiert wird, der Leute aus dem Beruf treibt?

Während in der Realität, vorausgesetzt die Rahmenbedingungen stimmen, die Arbeit in der Pflege von vielen Berufsangehörigen als «der schönste Beruf der Welt» bezeichnet wird. Einer, der entgegen der landläufigen Meinung unzählige Karrieremöglichkeiten bietet, internationale Mobilität und vieles mehr, nicht zuletzt eine sinnvolle, gesellschaftlich relevante Tätigkeit?

Uns beim SBK ist bewusst, dass wir und auch die Pflegenden – ich wähle hier bewusst den Sammelbegriff – im Bereich der Kommunikation Hausaufgaben haben. Wir sind dran. Es ist aber wichtig, dass die Medien auch zuhören und die Geschichten aufnehmen. Zurzeit bringt uns die Medienberichterstattung über die Pflege alle in Gefahr, wie Sandy Summers und Harry Jacobs Summers im Buch «Saving Lives. Why the Media’s Portrayal of Nursing puts us all at risk» konstatieren. Eine fundierte, den Fakten entsprechende, kritische, auch selbstkritische Berichterstattung über die Gesundheitsversorgung kommt allen zugute. Irgendwann auch den Medienschaffenden selber.

Martina Camenzind ist Redaktorin der Zeitrschrift «Krankenpflege» des Schweizer Berufsverbandes der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK).

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