Die Investigativjournalistin und Forscherin Manisha Ganguly hat unter anderem den russischen Angriff auf den Bahnhof von Kramatorsk in der Ukraine am 8. April 2022 untersucht. Bild: zVg

Aktuell – 17.06.2022

«Bei Kriegsverbrechen muss man schnell handeln»

Das Global Investigative Journalism Network (GIJN) bietet Tools an, um Gräueltaten in der Ukraine zu dokumentieren. Die britische Journalistin Manisha Ganguly ist an den Recherchen sehr aktiv und erfolgreich beteiligt.

Interview von Gilles Labarthe

Ein erleichterter Zugang zu Satellitenbildern, zu Daten im Internet, zu Fotos und Videos, die von Handys aufgenommen und über die sozialen Netzwerke verbreitet werden… Untersuchungen zu Kriegsverbrechen, die auf Open-Source-Recherchen (OSINT, Open Source Intelligence) basieren, er­lebten seit dem Winter 2010 und dem Beginn des «Arabischen Frühlings» einen Aufschwung. Seither stehen immer grössere Informationsmengen zur Verfügung, und spätestens seit den Konflikten in Libyen und Syrien kann auf erprobte Methoden zurückgegriffen werden.

Manisha Ganguly ist eine junge, in London arbeitende Investigativjournalistin und Forscherin, die unter anderem für die BBC als Expertin arbeitet. Ihre Dokumentarfilme wurden mehrmals international preisgekrönt. Das GIJN hat sie gebeten, einen Leitfaden zum Thema zu schreiben («15 Ratschläge für die Untersuchung von Kriegsverbrechen»).

EDITO: In einer Ihrer letzten Untersuchungen haben Sie für die BBC den Angriff auf den Bahnhof von Kramatorsk in der Ukraine am 8. April 2022 untersucht. Dieser richtete sich gegen zivile Personen, welche die Region verlassen wollten. Sie haben festgestellt, dass Splitterbomben verwendet wurden – eine Art von Bomben, die in 120 Ländern dank dem Übereinkommen über Streumunition aus dem Jahr 2008 untersagt sind. Unterschrieben haben allerdings weder Russland noch die Ukraine das Papier. Wie sind Sie vorgegangen?

Manisha Ganguly: Im Syrien-Krieg wurden erstmals derartige investigative journalistische Vorgehensweisen angewandt. Noch nie zuvor war ein Krieg so gut dokumentiert worden. Jener in der Ukraine ist nun jedoch sogar noch besser dokumentiert. Es geht darum, das ­Augenmerk auf Open-Source-Informationen zu legen – aber nicht nur. Wir haben eine hybride Arbeitsweise: Wir arbeiten auch mit Korrespondentinnen und Korrespondenten im Kriegsgebiet, die für uns gewisse Dinge vor Ort überprüfen. Denn mit der Archivierung und der Analyse der Daten ist es nicht gemacht. Man muss auch genau wissen, wonach man sucht.

Dieses Vorgehen habe ich auch praktiziert, als ich den Raketen­angriff auf den Bahnhof von Kramatorsk untersucht habe. Zuerst war ich über die Anzahl der Toten erstaunt: Mehr als 50 Tote nach einem Anschlag auf einen Bahnhof, das ist sehr hoch. Ich sah all die Bilder der auf dem Boden und in alle Richtungen verteilten Körper – und hatte Mühe, das zu glauben. Das war eine typische Art von L­etalität für Streubomben. Relativ rasch und aus der Ferne begann ich nach Bildmaterial zu suchen. Weil ich das nötige Vorwissen hatte, wusste ich, was ich finden musste.

Sie benötigten aber auch Zeuginnen und Zeugen sowie Nachweise vor Ort.

Mir fehlten zwingende Informationen, um überprüfen zu können, was ich festgestellt hatte. So bat ich unseren Ukraine-Korrespondenten Joe Inwood, der für die BBC bereits aus Syrien und dem Irak berichtete, an den Tatort zurückzukehren und zu versuchen, die ureigenen Spuren, die Streubomben hinterlassen, zu suchen, sie zu belegen und zu dokumentieren. Streubomben hinterlassen fächerförmige Spuren vom Einschlagspunkt, die auf mehrere Explosionen hindeuten und bei denen Fragmente in der Umgebung verteilt werden.

Zeugenaussagen haben bestätigt, dass nicht nur eine Explosion, sondern eine erste und dann vier oder fünf weitere gehört wurden. Am Folgetag des Angriffs wurden vor Ort Überbleibsel einer Totschka-U-Rakete gefunden – eine ballistische Kurzstreckenrakete, die zuletzt auch in Syrien zum Einsatz kam. Sie kann mit einem Splittergefechtskopf bestückt werden, der 50 kleine Bomben transportiert, und setzt beim Einschlag im Umkreis von 400 Metern tödliche Projektile frei. Schliesslich wurden unsere Daten einer militärischen Expertise unterzogen.

«Seit Beginn der EU-Sanktionen gegen russische Staatsmedien ist die BBC zum Ziel diskreditierender Vergeltungsmassnahmen Moskaus geworden.»

Manisha Ganguly

Welche anderen Regeln müssen beachtet werden?

Bei einer solchen Untersuchung muss man schnell handeln und die Verbreitung der hinterlassenen Spuren sowie das exakte Datum der Explosion ermitteln. Ebenso die Auswirkungen und Folgen des Angriffs, aber auch alle anderen Daten und Bilder, die in Verbindung dazu stehen. Und zwar bevor sie im grossen Informationsfluss verloren oder im Internet verfälscht werden …

Unmittelbar nach der Veröffentlichung Ihrer Untersuchung wurde auf den sozialen Netzwerken ein Falschvideo der BBC gepostet, das behauptete, die ukrainische Armee sei für die Explosion verantwortlich. Was war passiert?

Der Kreml hatte zuerst eine Medienmitteilung veröffentlicht und darin behauptet, die russische Armee habe weder in Kramatorsk noch in den Regionen von Donezk und Luhansk eine solche Rakete verwendet. Diese Fake News wurde dann gepostet. Dieses Vorgehen ist Teil der gezielten Verbreitung von Desinformation durch die russische Regierung.

Die BBC hat sogleich eine Warnung verbreitet, welche die widerrechtliche Logo-Verwendung anprangerte. Seit Beginn der EU-Sanktionen gegen ­russische Staatsmedien ist die BBC zum Ziel diskreditierender Vergeltungsmassnahmen Moskaus geworden. Dieser Kampf gegen Desinformation findet auch im Kontext der Konfrontation und Beeinflussung des Publikums statt. Die psychologische Dimension ist erkennbar und der Wille zur Demoralisierung offensichtlich.

Der Kreml wird auch beschuldigt, in der Region Charkiw Streumunition verwendet zu haben. Daraufhin hat der Internationale Strafgerichtshof eine Untersuchung eröffnet. Journalistinnen und Journalisten der partizipativen Website Bellingcat.com (2014 gegründet, spezialisiert auf Untersuchungen bei Menschen­rechts­verletzungen in Kriegs­gebieten) haben dann Nachprüfungen in Kramatorsk angestellt… Wie sieht es damit aus?

Bellingcat.com lieferte Informationen zum Kontext und zur Chronologie und hat zusätzliche Quellen zitiert. Ihr Team kommt zum selben Schluss: Entgegen der Behauptung der russischen Behörden verwendet deren Armee in der Ukraine das Raketensystem Totschka-U.

Dennoch weist Bellingcat.com darauf hin, dass die vorhandenen Beweise zur Zeit noch ungenügend seien, um alle Details des Anschlags aufzudecken. Insbesondere fehlt die Information, von wo die Rakete abgeschossen wurde.

NGOs wie Amnesty International archivieren und ana­lysieren Satellitenbilder und versuchen, sie auszuwerten. Sie greifen auch auf Tools zurück, die Sie empfehlen: Google Earth, Yandex Maps, Wikimapia, Sentinel Hub, Echosec, SunCalc, Liveuamap … Was sind die grössten Schwierigkeiten?

Seit Kriegsbeginn in der Ukraine sehen wir uns mit ­einer regelrechten Welle von Daten konfrontiert. Zum ersten Mal wird der Krieg auch auf Telegram, über TikTok-­Videos und natürlich das russische Facebook VK verbreitet. Letzteres wird auch von Kämpfern verwendet, die damit noch keine Erfahrung haben und sich der Macht der Bilder und Informationen nicht bewusst sind, die sie online teilen.

In dieser Datenschwemme müssen gefälschte Bilder und Fake News aufgestöbert werden. Deshalb ist es so wichtig, eine Timeline zu erstellen, die Ereignisse zu datieren und alle erhaltenen Daten genauestens zu verorten und festzuhalten, wer zu welchem Zeitpunkt welche Zone kontrolliert. Oft ist es sehr schwierig, Quellen ausfindig zu machen. Das kann lange dauern, beispielsweise wenn die Erstveröffentlichung eines Zeugenfotos zu bestimmen ist.

Links zu den Tipps von Manisha Ganguly:
netzwerkrecherche.org/international/guides/kriegsverbrechen

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