Fotos: Margareta Sommer

Aktuell – 11.03.2019

«Das Schlimmste ist das Schweigen»

Marie Parvex und Catherine Boss haben im internationalen Verbund über mangelhafte medizinische Implantate recherchiert. Wie arbeitet man in einem solchen Netzwerk? Und wie geht man mit den Patienten um, die unter fehlerhaften Implantaten leiden?

Interview: Bettina Büsser

EDITO: Kurz vor diesem Interview wurde bekannt, dass die Berner Staatsanwaltschaft gegen den Chirurgen Max Aebi ein Verfahren wegen schwerer Körperverletzung eröffnet hat – aufgrund eurer «Implant Files»-Recherchen. Wie kommt das bei euch an?

Catherine Boss: Ich bin froh darüber. Denn wir haben mit unseren Recherchen den Finger auf einen Bereich gelegt, bei dem man genauer hinschauen muss. Es ist sehr gut, dass die Staatsanwaltschaft den Fall nun mit ihren Mitteln untersucht.

Marie Parvex: Ich bin ebenfalls zufrieden. Allerdings: Als sich abzeichnete, dass es vor allem um eine Deutschschweizer Geschichte – das Bandscheiben-Implantat Cadisc-L und die beiden Professoren, die daran beteiligt waren – geht, hat Catherine mehrheitlich übernommen. Das ist ihr Erfolg.

Boss: Nein, es ist ein Erfolg der internationalen Zusammenarbeit. Allein hätten wir es nicht geschafft. Wir brauchten auch Dokumente aus dem Ausland, die haben uns ausländische Kollegen beschafft. Dies zeigt einmal mehr, wie viel weiter man kommt, wenn man im Team arbeitet, international, aber auch national.

Hatte eure «Implant Files»-Berichterstattung weitere Konsequenzen? Zum Beispiel in der Politik?

Parvex: Eine Gruppe von Politikern, vor allem Linke, hat versucht, bei der Revision des Heilmittelgesetzes im Bereich Medizinprodukte die Regelungen zu verschärfen. Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats hat aber die entsprechenden Vorschläge alle zurückgewiesen.

Boss: Es gibt aber Politiker, die sich bei der Parlamentsdebatte für eine bessere Gesetzgebung einsetzen wollen. Man kann noch nicht abschliessend sagen, dass nichts geschieht. Wir haben sicher eine gewisse Sensibilisierung für das Thema erreicht, der Druck hat sich erhöht. Das Interesse an der Einführung eines nationalen Implantateregisters, das für die Patienten sehr hilfreich wäre, ist gestiegen.

Gab es keine Klagen oder Klageandrohungen gegen euch?

Parvex: Nein. Wir haben gelernt, vorsichtig zu sein, und werden von einem sehr guten juristischen Team begleitet. Aber der schlimmste Druck ist für mich das Schweigen zu dieser Recherche. Die Unternehmen, die Medizinprodukte herstellen, schwiegen, die Versicherungen schwiegen, die Spitäler schwiegen, die Ärzte schwiegen mehrheitlich. Es war äusserst schwierig, in diesen Bereichen Quellen und Experten zu finden. Ich habe den Eindruck, dass die meisten von ihnen Interessenverbindungen mit der Medizintechnik haben. In der Schweiz gibt es keine neutralen Experten zu diesen Themen.

Boss: In der Deutschschweiz war es etwas anders. Während der Recherche war es sehr schwierig, aus der Medizinbranche Informationen und Unterstützung zu erhalten – es gab allerdings einige Ausnahmen. Nach der Publikation haben sich neben Patienten aber auch Ärzte gemeldet, die uns Hinweise gaben.

«Implant Files» war ja eine internationale Recherche, die mit einem Experiment einer niederländischen Journalistin begonnen hat (siehe Kasten). Koordiniert wurde sie vom International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ). Wie muss man sich das vorstellen: Erhieltet ihr ein Mail des ICIJ, in dem ihr zum Mitmachen aufgefordert wurdet?

Parvex: Der Leiter des Tamedia-Recherchedesks, Oliver Zihlmann, steht in regelmässigem Kontakt mit dem ICIJ. Er wurde darüber informiert, dass ein Projekt im Zusammenhang mit Implantaten anläuft. Er hat mich mit dem Netzwerk, das sich bildete, in Verbindung gebracht, ich war ab Mai 2018 dabei. Im August kam auch Catherine dazu. Das Netzwerk ist im Verlauf der Zeit und je näher wir der Publikation kamen, stark gewachsen.

Boss: Hinter einem solchen Projekt steckt extrem viel Organisationsarbeit. Dafür ist unser Teamchef zuständig. Danach werden, je nach Kapazität, Leute unseres Teams eingesetzt. Marie und ich hatten beide bereits Gesundheitsthemen recherchiert. Es war also naheliegend, dass wir beide mitarbeiten.

Gab es eine Art Rechercheplan, damit in jedem Land dieselben Fragen gestellt, dieselben Dinge abgedeckt werden?

Boss: Nein. Jedes Land entscheidet selber, wo es seinen Schwerpunkt setzt. Die Rechercheure widmen sich dem Thema und posten auf einer Plattform ihre Ideen und ihre Findings. Dann können sich andere anschliessen. Nehmen wir das Beispiel Max Aebi: Die Deutschen fanden viele Patienten mit diesem Implantat, die Engländer hatten Material zur Firma, wir in der Schweiz hatten die beiden Professoren, die beteiligt waren. Zusammen bildeten wir das internationale Rechercheteam zu diesem Thema.

Parvex: Bei den «Paradise Papers» und anderen Leaks hatte man sehr viele Daten, und alle Journalisten weltweit arbeiteten damit. Bei den «Implant Files» war es anders: Wir hatten keine Daten als Grundlage, also ging es darum, in allen Ländern möglichst viele Informationen zu suchen und sie auf die Plattform zu stellen. Die internationale Recherche hat sehr viele Informationen zusammengebracht, aber die Teams haben sich dann stark auf Geschichten konzentriert, die ihr Land betrafen.

Wie lange dauerte es, bis klar war, welches die Schweizer Geschichten sind?

Boss: Wir wussten ungefähr, welche Themen wir verfolgen wollen. Doch die Dimensionen haben sich verändert. Dass die Geschichte um Cadisc-L und Max Aebi der Schwerpunkt werden würde, hat sich erst etwa drei Wochen vor der Publikation gezeigt. Zuerst ging es einfach um ein nicht funktionierendes Implantat, das vielen Patienten in Deutschland eingesetzt worden war und an dessen Entwicklung Schweizer Professoren beteiligt gewesen waren. Die ganzen Informationen über die Versuche mit Affen und deren schlechte Resultate folgten erst später, als durch Recherchen weitere Dokumente zugänglich wurden.

Welches war die wichtigste Geschichte in der französischsprachigen Schweiz?

Parvex: Ebenfalls die Aebi-Geschichte. Denn es ist ein exemplarischer Fall für alle Probleme im Bereich Implantate. Es gab Fehler auf allen Stufen des Systems: Swissmedic hatte überhaupt keine Informationen, der Arzt erfüllte seine Verpflichtungen nicht, die Spitäler wussten nichts, das Unternehmen, das die Implantate verkaufte, wusste mutmasslich, dass es Probleme gab, dennoch wurden die Implantate auf den Markt gebracht.Bei einer so beispielhaften Geschichte besteht allerdings die Gefahr, dass die Industrie sagt: Das ist ein schwarzes Schaf. Doch dem ist nicht so, sie ist Teil des Systems. Die grossen Verlierer sind die Patienten.

«Die grossen Verlierer sind die Patienten.»

Mit dem Material der internationalen Recherchen wurde die offen zugängliche Datenbank International Medical Devices Database (IMDD) eingerichtet; sie enthält zurzeit Rückrufe und Warnhinweise zu Implantaten aus 36 Ländern.

Parvex: Patientinnen und Patienten, die ein Implantat in sich tragen, sollen sich darüber informieren können, ob es dazu Warnhinweise oder Rückrufe gibt, auch in anderen Ländern. Das ist ein Service. Es hat sich aber gezeigt, dass nicht alle Patienten die Datenbank nutzen können: Um darin suchen zu können, braucht man Namen, Modell und Chargennummer des Implantats. Bei mir haben sich mehrere Patienten gemeldet, die diese Angaben nicht haben – und deren Ärzte sich weigern, ihnen diese Informationen herauszugeben. Dabei haben sie ein Recht auf diese Informationen, denn das Patientendossier gehört dem Patienten.

Dann bist du als Journalistin also auch Beraterin der Patienten?

Parvex: Ich weise sie darauf hin, dass sie sich an eine Patientenorganisation wenden sollen, die ihnen mit juristischen Mitteln helfen kann, die Informationen zu erhalten. Aber die Patienten brauchen dafür Zeit und Energie. Manche von ihnen sagten mir: Ich schaffe das nicht, ich bin nicht gut ausgebildet, können Sie das für mich übernehmen? Ich muss dann sagen: Nein, das ist aufgrund des Arztgeheimnisses nicht möglich. Ausserdem ist es auch nicht mein Job. Aber ich bin immer bereit, den Leuten Auskunft zu geben, soweit es mir möglich ist.

Boss: Ich hatte ähnliche Fälle. In solchen Momenten ist die Trennung zwischen dem Journalistenjob und dem Beraterjob schwierig. Ich finde, bis zu einem gewissen Grad müssen wir auch beraten, das gehört zu unserer Verantwortung. Wer mir schreibt, mich anruft, erhält eine Antwort. Aber man muss Grenzen setzen.

Wie haben die anderen Medien – die Konkurrenz – auf eure Veröffentlichungen reagiert?

Boss: Die Reaktionen waren positiv, die Aebi-Geschichte etwa wurde breit aufgenommen.

Parvex: In der Suisse romande wurde über verschiedene Aspekte berichtet, vor allem von den SRG-Medien. Der Fall Aebi wurde nicht am meisten aufgenommen.

Und wie kamen die «Implant Files» hausintern an? Ist es unumstritten, dass der Recherchedesk bei solchen Geschichten unbegrenzte Kapazitäten hat?

Boss: Wir haben keinen Blankocheck und können nicht ewig an einem Thema arbeiten. Gerade in Zeiten, in denen abgebaut wird, müssen wir uns auch selber immer fragen: Wie viel Kapazität kann, darf, soll man in ein Projekt investieren? «Implant Files» ist auch hausintern sehr gut angekommen, weil das Thema nahe bei den Leuten ist, vielleicht näher als unsere früheren Recherchen zu Offshore-Firmen und Banken.

Wie geht es weiter? Wird es von euch weitere «Implant Files»-Geschichten geben?

Parvex: In den nächsten Wochen wird eine weitere Geschichte von mir erscheinen. Ich werde am Thema dranbleiben, auch um zu zeigen, dass es andere Fälle gibt, dass die Probleme noch immer bestehen.

Boss: Ich habe verschiedene Informationen erhalten, aber kann noch nicht sagen, ob sich daraus etwas ergibt. Ich werde sicher den Fall Aebi weiter verfolgen, je nachdem werden sich da auch regulatorische Fragen stellen.

Parvex: In der Suisse romande wurde über verschiedene Aspekte berichtet, vor allem von den SRG-Medien. Der Fall Aebi wurde nicht am meisten aufgenommen.

Und wie kamen die «Implant Files» hausintern an? Ist es unumstritten, dass der Recherchedesk bei solchen Ge-schichten unbegrenzte Kapazitäten hat?

Boss: Wir haben keinen Blankocheck und können nicht ewig an einem Thema arbeiten. Gerade in Zeiten, in denen abgebaut wird, müssen wir uns auch selber immer fragen: Wie viel Kapazität kann, darf, soll man in ein Projekt investieren? «Implant Files» ist auch hausintern sehr gut angekommen, weil das Thema nahe bei den Leuten ist, vielleicht näher als unsere früheren Recherchen zu Offshore-Firmen und Banken.

Wie geht es weiter? Wird es von euch weitere «Implant Files»-Geschichten geben?

Parvex: In den nächsten Wochen wird eine weitere Geschichte von mir erscheinen. Ich werde am Thema dranbleiben, auch um zu zeigen, dass es andere Fälle gibt, dass die Probleme noch immer bestehen.

Boss: Ich habe verschiedene Informationen erhalten, aber kann noch nicht sagen, ob sich daraus etwas ergibt. Ich werde sicher den Fall Aebi weiter verfolgen, je nachdem werden sich da auch regulatorische Fragen stellen.

Catherine Boss ist seit 2012 Reporterin des Recherchedesks von Tamedia; sie hat unter anderem bei den Recherchen zu den «Panama Papers» und den «Paradise Papers» im internationalen Journalisten-Team des ICIJ mitgearbeitet. Von 2000 bis 2012 war sie als Nachrichtenredaktorin für die «SonntagsZeitung» tätig, davor arbeitete sie unter anderem für die juristische Zeitschrift Plädoyer.

Zweimal wurde sie mit dem «Zürcher Journalistenpreis» ausgezeichnet: 2009 gemeinsam mit Martin Stoll und Karl Wild für die Recherchen zum «Fall Nef», 2018 gemeinsam mit Marie Parvex und sechs weiteren Recherchedesk-Mitgliedern für die Recherchen zu den «Paradise Papers». Catherine Boss ist Mitglied des Publizistischen Beirats von EDITO.

Marie Parvex ist seit 2017 Reporterin des Recherchedesks von Tamedia; sie hat unter anderem bei den Recherchen zu den «Paradise Papers» im internationalen Journalisten-Team des ICIJ mitgearbeitet. Sie stieg 2008 beim «Nouvelliste» in den Journalismus ein, später arbeitete sie als Wallis-Korrespondentin für «Le Temps». Nach einer Ausbildung im Ausland arbeitete sie dort als Investigativ- und Datenjournalistin.

2014 wurde sie mit dem Prix Jean Dumur ausgezeichnet (unter anderem für ihre Recherchen zur «Affaire Giroud» und zu Umweltskandalen von Lonza und Tamoil), 2018 erhielt sie gemeinsam mit Catherine Boss und sechs weiteren Recherchedesk-Mitgliedern für die Recherchen zu den «Paradise Papers» den «Zürcher Journalistenpreis».

Implant Files
2015 legte die niederländische Journalistin Jet Schouten den zuständigen Prüfstellen ein Stück aus einem Netz, in dem Mandarinen eingepackt gewesen waren, vor. Das Netz, so beantragte sie, solle als Vaginalnetz Frauen implantiert werden. Die Stellen signalisierten, eine Zulassung wäre wahrscheinlich.Das war der Start zu einer internationalen Recherche über Missstände bei Medizinprodukten. Koordiniert vom International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ) recherchierten 250 Reporter und Datenspezialisten von 58 Medienunternehmen aus der ganzen Welt zu diesem Thema. Aus der Schweiz waren der Recherchedesk und das Datenteam von Tamedia beteiligt. Sie berichteten in der Serie «Implant Files» über fehlerhafte Implantate, unter anderem über die Bandscheibenprothese Cadisc-L. Diese musste, nachdem sie sich zum Teil im Körper von Patienten aufgelöst hatte, vom Markt zurückgezogen werden.Zwei Schweizer Professoren waren als Mitglieder des wissenschaftlichen Beraterstabs der Firma involviert; sie hatten klinische Tests einer Bandscheibenprothese zugelassen, obwohl Versuche an Affen ungünstige Resultate zeigten. Einer der Professoren, Max Aebi, hatte die Prothese auch mehreren Patienten implantiert.

Bettina Büsser

Redaktorin EDITO

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