«Ich schreibe persönliche Artikel über das, was derzeit in der Ukraine geschieht.» Andrej Kurkow

Aktuell – 17.09.2022

Dem Krieg mit schwarzem Humor begegnen

Der ukrainische Bestsellerautor Andrej Kurkow versucht in internationalen Medien die kafkaeske Situation zu erklären, die sein Land und die Journalistinnen und Journalisten derzeit durchmachen. EDITO hat ihn in Frankreich zum Gespräch getroffen.

Von Gilles Labarthe

Er schreibt nicht nur Roman-Bestseller, sondern auch bissige Kolumnen: Andrej Kurkow hat seine ganz eigene, unabhängige Laufbahn. Er wurde 1961 in Sankt Petersburg geboren, wuchs in einer kommunistischen Familie auf, lebte aber seit seiner Kindheit in Kiew, wo er sich für Fremdsprachen begeisterte (er spricht sechs).

Seit seinem 1991 erschienenen Debütroman reihte er Erfolg an Erfolg, insbesondere mit seinem Roman «Le Pingouin», der 2000 in Frankreich erschien und in 36 Sprachen übersetzt wurde (deutscher Titel: «Pinguine frieren nicht»). Es ist die zugleich lustige und beängstigende Geschichte eines Kiewer Journalisten, der sehr gut bezahlt wird, um im Voraus Nachrufe zu bekannten Persönlichkeiten zu schreiben, die sich im Dunstkreis der Macht bewegen und schliesslich unter mysteriösen Umständen den Tod finden.

Als Präsident des ukrainischen PEN-Clubs – ein internationaler Verbund, der weltweit die Meinungsfreiheit von bedrohten oder inhaftierten Schriftstellerinnen und Schriftstellern verteidigt – war er dieses Jahr Ehrengast am Festival Etonnants Voyageurs in Saint-Malo in der Bretagne. EDITO hat ihn interviewt.

Andrej Kurkow, wie beschreiben Sie sich?

Andrej Kurkow: Ich bin ein ukrainischer Schriftsteller mit russischer Muttersprache. Eigentlich wohne ich in Kiew, im Moment habe ich aber Zuflucht in Uschhorod in den Karpaten gefunden. Unser Herz ist aber in Kiew, unser jüngster Sohn lebt noch immer dort.

Sie sind auch Kolumnist und waren als Journalist tätig.

Nach meinem Studium habe ich angefangen, als Verleger zu arbeiten. Ich begann zu übersetzen und für eine Ingenieurzeitung zu arbeiten. Während meines Militärdiestes in Odessa als Gefängniswärter schrieb ich Kindergeschichten. Ab Ende der 1980er-Jahre habe ich dann mein Geld als Drehbuchautor verdient. Ich habe mehr als 20 Drehbücher für das Kino, Dokumentarfilme und TV-Serien geschrieben.

Sie haben nicht per Zufall ein Drehbuch für Wolodimir Selenski geschrieben, als dieser noch nicht Präsident, sondern TV-Schauspieler war?

Nein, das ist nicht mein Stil … (lacht).

Für Journalistinnen und Journalisten ist das Leben in der Ukraine hart: Sie werden überwacht, je nachdem, was sie publiziert haben, manchmal gar ermordet … Sie erwähnen dies mit Vehemenz. Warum?

Nachdem die Ukraine unabhängig geworden war, haben sich Journalistinnen und Journalisten bei zahlreichen legalen, aber auch illegalen Aktivitäten engagiert. Viele wurden bezahlt, um im Sinne der Oligarchen zu schreiben. Nehmen wir doch gerade das Beispiel einer Filmproduktion, in der Selenski gespielt hat. Sie wurde von Ihor Kolomoiski finanziert, vielleicht der reichste ukrai­nische Oligarch.* Kolomoiski wurde unterdessen angeklagt, 5,5 Milliarden Dollar der grössten Privatbank des Landes, der PrivatBank, veruntreut zu haben, bevor diese 2016 verstaatlicht wurde.

Kolomoiski ist in einen der grössten Finanzskandale des Landes involviert, über den das Organized Crime and Corruption Reporting Project (OCCRP), eine internationale NGO von Journalistinnen und Journalisten, eine Unter­suchung veröffentlicht hat.

Anfang der 1990er-Jahre, zu Beginn der am 24. August 1991 proklamierten Unabhängigkeit, gab es viele solche Fälle. Es herrschte richtiggehend Krieg zwischen verschiedenen Einflussgruppen, die sich Macht verschaffen wollten – und daran beteiligt waren selbstverständlich auch Journalistinnen und Journalisten. Jede dieser Gruppen besass meinungstreue Zeitungen und Magazine, deren Mitarbeitende bezahlt wurden und den Anweisungen zu gehorchen hatten.

Seit der Maidan-Revolution 2014 wurden Gesetze über die Transparenz der Medien, den Informationszugang und den Schutz von Medienschaffenden verabschiedet. Reporter ohne Grenzen (RSF) hält fest, dass 2017 die Schaffung ­von Suspilne, dem unabhängigen öffentlich-rechtlichen Rund­funk der Ukraine, «die bedeutendste aller Reformen» war. Dies vor dem Hintergrund, dass «die einflussreichen Oli­garchen alle nationalen TV-Stationen besitzen» und der Sektor «unter ständiger Bedrohung russischer Kräfte» steht.

Ja, heute ist die Situation sicherlich viel «zivilisierter». Und trotz des Krieges, im Gegensatz zu Russland, bleibt die ukrainische Presse frei. Es gibt viele verschiedene Meinungen, die in den Medien Gehör finden, das Ganze ist aber etwas unübersichtlich. Wie überall gibt es natürlich auch Fake News und Manipulationen, doch die Situation hat sich eher positiv verändert.

2021 war die Ukraine in der von RSF veröffentlichten Rangliste der Pressefreiheit noch auf Platz 97 von 180. Können Sie ein Beispiel von Fake News nennen?

Seit Jahren werden Fake News verbreitet, zuallererst auf Social Media. Sie zirkulieren, ohne dass sie immer den Weg in die Presse finden. Etwa die Geschichte, nach der Petro Poroschenko, Milliardär und ukrainischer Staatspräsident von 2014 bis 2019, für den Mord an seinem ­Bruder verantwortlich sein solle. Ich kenne die Details dieser Geschichte nicht, doch ich weiss, dass diese Fake News für viel Gesprächsstoff gesorgt hat.

Sind die Journalistinnen und Journalisten in die Falle getappt?

Einige Informationsseiten haben diese Gerüchte weiterverbreitet, ich habe das nicht verfolgt. Er wird seither verdächtigt, mit dem steinreichen prorussischen Magnaten und Putin-Freund Wiktor Medwedtschuk zusammengearbeitet und Staatsfonds verwendet zu haben, um Separatisten zu unterstützen. Das wird mit «Hochverrat» gleichgesetzt.

Poroschenko ist heute bemüht, sich von Putin zu distan­zieren und sein Bild in den Medien wieder aufzupolieren. Politische Rivalitäten, Abrechnungen und Meinungs­um­schwünge scheinen in der Ukraine sehr ausgeprägt zu sein – bester Stoff für Kolumnen …

Seit ich 15 Jahre alt bin, schreibe ich ein Tagebuch. 2014 wurde ich von einem österreichischen Verlag angefragt, ob ich ein wirklichkeitsnahes Buch schreiben möchte, eine Art Essay zur Ukraine. Als die Maidan-Revolution begann, habe ich vorgeschlagen, ein Tagebuch zu diesen Vorkommnissen zu schreiben. So habe ich dann täglich einen Text zum aktuellen Tagesgeschehen verfasst. Dieses Buch wurde zuerst auf Deutsch unter dem Titel «Ukrainisches Tagebuch» und dann auf Französisch publiziert.

Und heute prangern Ihre Kolumnen zugleich Putin, den Krieg und einige Fehler in Selenskis Präsidentschaft an.

Ich schreibe persönliche Artikel, die informieren sollen über das, was derzeit in der Ukraine geschieht. Sie er­scheinen vor allem in der englischsprachigen Presse in Grossbritannien und den USA, in Titeln wie The Guardian, The Economist, The Sunday Times, The Observer, The New York Times. Sie werden mit anderen Texten in einem Buch zusammengetragen und voraussichtlich im Oktober dieses Jahres erscheinen.

«Mein Roman handelt im Spannungsfeld prorussischer Separatisten und der ukrainischen Armee.»

Andrej Kurkow

Ihr letzter Roman «Les abeilles grises», den Sie noch vor 2022 geschrieben hatten, ist gerade auf Französisch über­setzt worden. Er spielt inmitten des Donbass-Konflikts.

Diese Geschichte spielt in der «grauen Zone», die heute nicht mehr existiert, weil dieses Territorium von der ­russischen Armee besetzt ist. Diese Zone war vor dem 24. Februar 2022 genauso lang wie die heutige Front­linie, nämlich 430 Kilometer. Es gab Dutzende verlassene oder zumindest fast ver­lassene Dörfer. Mein Roman beginnt in einem dieser ­Dörfer, wo es weder Strom noch ­Läden gibt – im Spannungsfeld der prorussischen Separa­tisten und der ukrainischen Armee, wo einzig zwei ­Männer geblieben sind. Seit ihrer Kindheit sind sie Feinde, vertreten verschiedene Meinungen, sind nun aber gezwungen, zu kooperieren. Der eine ist Rentner und hatte in den Minen gearbeitet, der andere ist Imker, der zu Beginn des Krieges seine Bienen verteidigt und davon träumt, sie an einen friedvollen Ort zu bringen.

Was wäre ein schönes Ende dieser tragischen Geschichte, die sich derzeit in der Ukraine abspielt?

Selbstverständlich der Tod von Putin und ein Wandel in Russland. Allerdings ist ein demokratischer Wandel sehr schwierig vorstellbar in einem Land, wo das Volk keine Meinungsfreiheit besitzt und es unmöglich ist, seine Unzufriedenheit gegenüber der Politik auszudrücken.

* Ihor Kolomoiski ist auch Besitzer des 1995 gegründeten TV-Senders 1+1. Der zweitwichtigste Sender des Landes hat die Kandidatur von Selenski 2019 offen unterstützt. (Red.)

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