Nein, das ist nicht Mike. Das ist ein Gemälde von Gustav Klimt mit dem Titel «Garten mit Hähnen». Wer ein Bild von Mike sehen will, der soll mal schön selber googeln. Quelle: The Yorck Project 2002

Aktuell – 18.03.2020

Der Hahn ohne Kopf

Die Nachrichtenwerttheorie bringt das Schlechteste in den Medien und den Journalisten zum Vorschein. Ein Plädoyer für mehr Mut und langfristiges Denken.

Von Samantha Zaugg

Jemand hat mir mal gesagt, hätte der Journalismus ein Wappentier, es wäre der Aasgeier. Ich finde, das stimmt nicht. Ich finde, hätte der Journalismus ein Wappentier, es wäre ein Hahn. Ohne Kopf.

Wenn man einem Hahn den Kopf abschlägt, muss man ihn danach gut festhalten. Also den Teil ohne Kopf. Denn sonst rennt er davon und man muss ihn suchen, irgendwo im Gebüsch. Im dümmsten Fall flattert er noch auf den Schopf und man muss eine Leiter besorgen um ihn runterzuholen. Er bewegt sich zwar noch und führt sich auf wie ein Huhn oder Hahn mit Kopf, aber nicht mehr lange.

So kommt es mir manchmal mit dem Journalismus vor. Wir Journalisten machen irgendwelche Sachen, die im Moment zwar noch funktionieren, aber irgendwann nicht mehr und dann haben wir den Salat. Halt Stopp! Was ist mit Mike? Sagen Kritiker. Ja gut, Mike ist der aktuelle Weltrekordhalter im ohne Kopf leben – unter den Hühnervögeln. Dem amerikanischen Hahn wurde 1947 der Kopf abgeschlagen und er hat noch 18 Monate weitergelebt. Das ist doch mal was.

«Unsere selbst auferlegten Regeln werden uns irgendwann das Genick brechen.»

Aber Mike konnte nicht mehr selber fressen und musste gefüttert werden, indem man ihm eine Mischung aus Milch und Wasser mit einer Pipette direkt in die Speiseröhre tropfte. Ausserdem musste man ihm jeden Tag Schleim aus der Luftröhre absaugen, damit er nicht erstickt. Wie Sie das in eine Metapher für den modernen Journalismus übersetzen wollen, überlasse ich Ihnen mal schön selber. Jedenfalls lasse ich Mike nicht als Gegenargument gelten.

«Flüchtlinge sind so 2015, das ist vorbei»

Ich komme zum Punkt: Unsere selbst auferlegten Regeln werden uns irgendwann das Genick brechen. Wir Journalisten haben gewisse Regeln, die müssen wir unbedingt einhalten. Obwohl sie unsere Zuschauer, Leserinnen und Hörer nicht die Bohne interessieren. Diese Regeln interessieren nur uns selber. Allen voran die Nachrichtenwerttheorie. Das habe ich vor gut einem Jahr selbst erlebt: Ich recherchierte zu unbegleiteten minder­jährigen Flüchtlingen im Balkan. Davon gibt es eine Menge, vor allem in Serbien. Da sollen Knaben aus Afghanistan und Pakistan obdachlos oder in Baracken hausen. Sie sollen Drogen konsumieren und sich prostituieren. Diese Informationen hatte ich von verschiedenen unabhängigen Quellen. Ich habe also Recherchegespräche geführt und Daten zusammengetragen. Schliesslich war ich bereit, vor Ort zu gehen. Um mir die Reise zu finanzieren, musste ich mich zuerst um einen Abnehmer kümmern. Also habe ich begonnen zu hausieren. Und dann kamen die Absagen: «Serbien? Ist das EU?» Nein. «Ist es wenigstens Schengen-Raum?» Nein. «Dann ist es zu weit weg.» «Wie viele Kinder sollen da sein?» 300. «Das sind ja gar nicht so viele.» «Flüchtlinge sind so 2015, das ist vorbei.»

Schliesslich habe ich doch einen Abnehmer gefunden, bin nach Serbien gereist und habe Beschämendes angetroffen. 15-jährige Knaben, die schon mehrere Jahre ohne ihre Eltern auf der Flucht sind. Die bei Schnee und Minustemperaturen in verlassenen Baracken hausen. Die offensichtlich verstört sind, massives autoaggressives Verhalten zeigen – Schnittwunden, Haare ausreissen, Verbrennungen mit Zigaretten. Kleine Knaben, die rauchen und trinken.

Das Downgrade

Ich habe keine harten Drogen und auch keine Prostitution gefunden. Allein schon diesen Satz zu ­schreiben, ist absurd. Meine Geschichte funktioniert jedenfalls nicht so, wie ich sie verkauft habe. Ich melde mich bei der Redaktion. Man sagt mir: «Das ist jetzt schon ein rechtes Downgrade.» Spürt ihr euch eigentlich noch? Hätte ich gerne gesagt, wäre ich mutig gewesen. Selbstverständlich habe ich mich entschuldigt, habe den Beitrag trotzdem geschrieben, einfach mit anderem Fokus. Und habe mich schlecht gefühlt. Weil ich mit dem gestreckten Bein voraus in die Honorarverhandlung gegrätscht bin und weil ich Reisespesen ausgehandelt habe, von einem Medium, das nie Reisespesen bezahlt, weil es selbst kein Geld hat. Ich habe tatsächlich überlegt, ob ich anbieten soll, einen Teil der Spesen selbst zu tragen, weil ich ja jetzt keine Geschichte über drogensüchtige, minderjährige, sich prostituierende Flüchtlinge abgeliefert habe. Dann habe ich kurz nachgedacht und mir gesagt: Sicher nicht.

Warum wir uns ins eigene Fleisch schneiden

Ich fasse zusammen: Ich habe mehr als 20 Jugendliche, obdachlos, psychisch und physisch krank, die süchtig sind, deren Menschenrechte nicht gewährleistet werden, die keine Perspektive haben und auch niemanden, der sie lieb hat. Und das reicht nicht für eine «Geschichte». Ja was denn noch? Müssen sich die Kinder wirklich prostituieren und schwere Drogen nehmen, damit sie eine Geschichte wert sind? Da habe ich realisiert, wie komisch wir Medienschaffende manchmal sind. Wie wir uns selbst mit unseren selbst auferlegten Regeln ad absurdum führen.

Ich habe diese Geschichte Leuten erzählt, die keine Journalistinnen sind. Sie haben das nicht verstanden. Erst wenn wir versuchen, unsere eigenen Regeln Aussenstehenden zu erklären, realisieren wir, wie zynisch diese sind. Ich bin mir bewusst, dass der Nachrichtenwert eine publizistische Theorie ist und kein Gesetz. Und es ist eine Theorie, die durchaus Sinn gibt. Aber nicht, wenn wir sie naturalisiert haben und starr anwenden. Denn damit schneiden wir uns ins eigene Fleisch. Gerade wenn es um globale Themen wie Flucht und Migration geht.

«Was ich an gutem Journalismus liebe, ist, dass er mich überrascht.»

Indem wir alle die gleichen journalistischen Theorien rechtspositivistisch anwenden, produzieren wir einfach alle mehr vom Gleichen. Und von dem gibt es genug. Was ich an gutem Journalismus liebe, ist, dass er mich überrascht. Dass er Ereignisse in einen Kontext setzt, das grössere Bild zeichnet, mir den Blick aus der Kiste des Erwartbaren heraus zeigt. Das ist nicht nur, was ich liebe. Es ist auch das, was ich vom Journalismus erwarte. Und damit von uns allen. Gerade in Zeiten wie diesen: Wir stecken in einer Medienkrise, sind angewiesen auf Traffic und Werbung. Warum werden Anzeigen geschaltet? Weil Leute unsere Arbeit konsumieren. Und wieso tun sie das? Weil wir gut sind. Das ist unser ganzes Potenzial.

Wenn wir das verscherbeln, indem wir immer nur mehr vom Gleichen produzieren und unser Profil immer mehr verschwimmt, geht es uns irgendwann wie Mike: Wir machen es vielleicht noch länger als 18 Monate, aber das Ende ist absehbar.

5 Kommentare

#1

Von Martin Sailer
28.04.2020
Hervorragende Analyse

Ja, viele abhängige Medienschaffende der grossen Zeitungen laufen häufig wie ein Hahn ohne Kopf herum. Gut, dass es noch motivierte unabhängige Journalisten gibt, die sich fragen, was wirklich auf unserem Planeten passiert. Ich betrachte die traurige Geschichte der Migrantenkinder in Serbien als viel wichtiger als die vielen sinnlosen Diskussionen um den Coronavirus.

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