Aktuell – 20.09.2017

Ein blamabler Zustand

«Carte blanche» von Brigitte Hürlimann, noch bis Ende Jahr NZZ-Gerichtsberichterstatterin und ab März 2018 Redaktionsleiterin «plädoyer»:

­Eigentlich sollten wir ja zu den Spitzenverdienerinnen und -verdienern gehören, innerhalb der Medienbranche. Man müsste uns mit Lob, Anerkennung und Wertschätzung überschütten, unsere Teams mit gewaltig viel Manpower ausstatten – und zwar in jedem Medium, egal ob Print, Online, Radio oder Fernsehen, Magazin oder Zeitung. Alle würden davon profitieren, und wie!

Tja, die Realität ist meilenweit davon entfernt. Wir, das sind die Gerichtsberichterstatterinnen und Gerichtsberichterstatter dieses Landes. Wir verbringen Stunden, Tage, manchmal gar Wochen in den Gerichtssälen, sitzen so lange auf harten Bänken und Stühlen, bis wir jeden einzelnen Knochen im Leib spüren und die Ohren vom Zuhören glühen.

Und dann, nach solch anstrengenden, oft auch belastenden Tagen rasen wir zurück in die Redaktion oder klappen in der nächstgelegenen Beiz das Laptop auf und fangen mit dem Schreiben an. War der Galeristensohn bei Sinnen, als er seinen Freund massakrierte? Muss der afghanische Flüchtling ausgeschafft werden, weil er sich einer sexuellen Belästigung schuldig gemacht hat? Wehrt sich die Wohngemeinschaft mit Erfolg gegen den horrenden Mietzins und darf der Verwahrte auf eine Perspektive hoffen?

Es ist das Leben pur, das sich in den Gerichtssälen abspielt oder in schriftlich gefällten Urteilen dargestellt wird. Es sind Dramen, Alltagsgeschichten, es menschelt ganz gewaltig. Und immer bekommt die Journalistin Stoff für die unglaublichsten Storys geliefert; die sind manchmal zum Schmunzeln, meist aber bierernst und oft von gesellschaftlicher Relevanz. Wir beobachten, wie unsere Gerichte mit Straftätern oder mit Rechtsuchenden umgehen. Wird der ausländische Einbrecher mit dem gleichen Respekt behandelt wie der hiesige Finanzjongleur? Spielt etwa die politische Zusammensetzung der Richterbank eine Rolle bei der Entscheidfindung?

Unbestrittenermassen gehört es zu den zentralen Aufgaben seriöser Medien, auch die dritte Staatsgewalt, die Judikative, kritisch und kontinuierlich zu begleiten. Bei der Gerichtsberichterstattung kommt hinzu, dass solche Beiträge überdurchschnittlich gut gelesen beziehungsweise gehört oder gesehen werden. Völlig unverständlich deshalb, dass die dafür zuständigen Medienleute innerhalb der Redaktionen ein schlechtes Ansehen geniessen – und dass immer weniger, schlecht ausgebildete und kaum vorbereitete Kolleginnen und Kollegen mit dem Gerichts-Dossier betraut werden: ein in jeder Hinsicht blamabler Zustand.

Autorin
Brigitte Hürlimann

1 Kommentar

#1

Von Daniel Huber
21.09.2017
Und jetzt? Das Herz ausgeschüttet, sich beklagt. Wie wäre es stattdessen mit Lösungsansätzen?

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