Aktuell – 06.05.2013

Ein gutes Pressebild stellt Fragen

Referat von Arnold Hottinger zur Eröffnung der Keystone-Ausstellung der World Press Photo-Bilder 2013.

Als ich 1958 als Volontär bei der Neuen Zürcher Zeitung begann, gab es dort ein Gesetz, das sagte: "Bilder werden bei uns nicht publiziert." Das war von Willi Bretscher, dem grossen Chefredaktor der Zürcher Zeitung. Ihm verdankt man unter anderem, dass Hitler die Zürcher Zeitung nicht kaufen konnte, er hat das verhindert. Und er hat dann die Zürcher Zeitung durch den Krieg durch getragen mit dem Mut, den es damals brauchte, um der Dampfwalze der Deutschen zu widerstehen. Bretscher hat gesagt: "Wir schreiben, die Leute sollen uns lesen. Und wenn die Leute Bilder anschauen wollen, dann gibt es dafür die Illustrierten." Er ging weiter. Er sagte: "Bilder gehen ein, aber sie zwingen nicht zum Überlegen. Sie berühren die Leute, ohne dass sie sich Rechenschaft geben, was sie eigentlich bedeuten. Wir brauchen die Schrift."

Das hat er eine Zeit lang aufrecht erhalten. Aber wie wir alle wissen: es liess sich nicht durchhalten. Es gab Redaktoren, die schon in dieser Zeit immer wieder mit Bretscher geredet haben und die gesagt haben: "Ein Bild zeigt eben doch Dinge, die ein geschriebener Artikel nicht zeigen kann." Bretscher hat lange Widerstand geleistet. Aber diesem Argument konnte er am Schluss nicht entsagen. Er musste zugeben – er war ja ein Journalist: Das Bild hat eine Botschaft, die man unter Umständen nicht durch das Geschriebene wiedergeben kann. Und es kam der Moment, wo er sagte: "Gut, wenn ihr Bilder findet, die mehr sagen als unsere Artikel, dann ein Bild auf Seite 3." So war es am Anfang und wir wissen, es hat sich geändert. Es gibt heute in der Zürcher Zeitung fast jeden Tag ein Bild auf Seite 1 – nicht alle Tage in der Woche.
Natürlich, die Flut der Bilder hat in diesen 50, 60 Jahren gewaltig zugenommen. Wir leben heute in einer Zeit der Bildinformation. Und da muss ich Bretscher schon etwas Recht geben: Es ist nicht sicher, dass diese Bildinformation immer optimale Information gibt. Und es gibt dafür Gründe. Ein Bild ist immer geschossen. Das heisst, es geht auf ein Objekt zu. Es gibt ihr nicht den lokalen, den geographischen Zusammenhang, in dem dieses Bild steht. Ein Bild ist auch immer in der Zeit beschränkt. Es bietet Ihnen, den Betrachtern, einen Augenblick, es gibt Ihnen nicht, was vorher geschehen ist und nicht, was nachher geschehen wird oder könnte. Und ein Bild stellt etwas dar, ohne Ihnen zu sagen, woher es kommt, wie das zustande kommt, warum das so ist, das kausale Element fehlt. Diese drei Zusammenhänge sind für eine echte Information notwendig.

Sie können nicht einfach unter dem Eindruck eines Bildes glauben, sie seien informiert. Das geht Ihnen so, wenn Sie hier in der Ausstellung herumschauen: Sie schauen immer auf die Legende. Sie wollen die Brücke, die Ihnen sagt: wohin gehört das Bild, und vielleicht auch: wer steckt dahinter, oder warum ist das sensationell, besonders, eigenartig. Diese Zusammenhänge sind mit entscheidend. Für uns heute ist eine Gefahr da, dass wir zu sehr auf Bilder eingespielt werden, und uns dann an diese Bilder halten, wir konsumieren sie, wie man sagt, wir nehmen sie zur Kenntnis, eins nach dem anderen. Dann kommt noch die Geschwindigkeit dazu, über das Fernsehen mit grosser, rascher Abfolge der Bilder. Und die Frage "woher kommt das, was bedeutet das, in welchem Zusammenhang steht das?" wird in den Hintergrund geschoben durch die Macht des Bildes. Denn ein Bild ist wie eine Begegnung, das kommt ihnen entgegen, und sie reagieren darauf. Da gibt es zuerst mal Reflexe, Reaktionen, wupp – da ist es. Und diese Reaktion ist die erste Reaktion auf das Bild. Darüber sollte man sich Rechenschaft geben. Die Reklameleute wissen das schon lange – und nicht nur die Reklameleute, sondern auch die Leute, die versuchen, durch Emotionen politische Wirkung zu erreichen, die vielleicht in ihrem Interesse sind. Also die Propagandisten der Politik wissen heute auch: das Bild ist viel wirksamer als das gesprochene Wort, im Akt – aber nicht als Erklärung, und nicht als Zusammenhang. Gerade aus diesem Grund ist ausserordentlich wichtig, dass man auf die Qualität der Bilder schaut.

Ein wirklich gutes Pressebild vermittelt Ihnen etwas mehr als die blosse Begegnung, es ist etwas mehr als etwas Aufwühlendes, das Ihnen da entgegenkommt: Es stellt Fragen! Das ist ein wichtiges Element. Ein gutes Bild, das zur Information hinführt, soll fragen: Warum ist das so? Wie kommt das? Wozu? Wo befinden wir uns? Was ist das Besondere? Es soll Fragen aufwerfen, die dann die Erklärung notwendig macht, die Erklärung provoziert, nach der Erklärung fragt. In diesem Sinn ist das Bild ganz bestimmt wichtig. Und hier in der Ausstellung haben Sie solche Bilder, die aufrufen und die Fragen stellen. Das sind die guten Bilder. Jene, welche einfach über die Leinwand flimmern und denen Sie als passiv Aufnehmende gegenüberstehen, das sind die Bilder, die ausgelöst werden können, um sie zu beeinflussen, ohne dass sie es merken. Das sind die Bilder, die der Propaganda oder eben der Reklame dienen. Die Bilder, die befragt werden müssen, das sind die Bilder, die wir hier brauchen. Machen wir die Probe aufs Exempel. Wenn Sie sich nun hier, in der Ausstellung von word press photo umsehen, dann würde ich sagen: Für sehr viele Bilder, die ich hier sehe, kann ich Ihnen den Zusammenhang nicht geben. Die Bilder, die den Nahen Osten angehen, das sind Bilder, wo ich Ihnen sagen kann: Was wirft das für Fragen auf, wie kommt das zustande, warum ist das so, muss das so sein, und warum muss das so sein, was müsste sich ändern, damit es nicht so weiter geht, wird es so weitergehen? Und so weiter. Diese Fragestellungen sollte das Bild aufwerfen. Und der schreibende, erklärende Journalist sollte dann ein Minimum an Zusammenhang, an Erklärung schaffen. Dann haben Sie ein Bild, das auch informiert und das die Tiefenperspektive bietet.

Ich denke das Bild, das den ersten Preis hier gewonnen hat, das ein Bild aus dem Nahen Osten ist, die beiden Kinder, die in Gaza begraben werden: Das ist sofort eindrücklich, man sieht das Leiden der Menschen. Aber man ist auch gezwungen zu fragen: Was ist das, Gaza, wie kommt das, was soll das, warum sollen da Kinder sterben, warum laufen die Leute hinter ihren Särgen her, wie kommen sie zu diesen Ausdrücken in ihren Gesichtern, die da sind? Das sind Fragen, die aufgeworfen werden, sobald Sie das Bild sehen: Muss das so weitergehen? Geht das schon lange so? Und so weiter? Und da sind Antworten, die man geben kann, die gegeben werden sollten, um das Bild in seinen vollen Zusammenhang zu stellen. Heute ist der Zusammenhang bei Zivilisationen, die uns nicht sehr nahe stehen, die etwas anders sind, im reinen Bild meistens ausgelassen. Und er muss gegeben werden in der Beschreibung, in der Erklärung und in den Ausführungen, die rund um das Bild gemacht werden, um deutlich zu machen, wie das Ganze funktioniert. Wie das Ganze, als Teil, Ausschnitt, als geschossenes Bild, in jenem Leben steht, das Sie nicht sehen, aber das Sie auch mitbekommen sollten, wenn wir uns informiert glauben wollen.

 

Arnold Hottinger, Journalist und Nahostexperte, langjähriger Korrespondent der NZZ, anlässlich der Eröffnung der Keystone-Ausstellung der World Press Photo-Bilder 2013; Mündliche Rede transkribiert.

Die Ausstellung in der Sihlcity Zürich dauert bis zum 26. Mai. http://www.keystone.ch/bild-disp/keystone/de/cms_wpp.html

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