Vier unterschiedliche Wertekonstrukte prallen aufeinander. Photo: Hannah Markfort

Aktuell – 25.11.2017

«Zeitstillstand»: Gedanken, wie Sprengsätze

Die Neuinszenierung von «Zeitstillstand» bringt einige grosse Fragen auf die Schweizer Bühnen. Zum Beispiel die nach der Moral der Kriegsberichterstattung. Das Stück lässt niemanden kalt. 

Nina Fargahi

Die Fotojournalistin Sarah wird bei einer Bombenexplosion im Irak schwer verletzt. Nur knapp überlebt sie den Anschlag; Tarik, ihr Fixer, stirbt vor Ort. Sarahs Lebensgefährte James, ebenfalls ein Kriegsberichterstatter, bringt die Schwerverletzte zur Genesung nach Hause nach New York zurück. Das Paar erhält Besuch von Richard, Sarahs Bildredaktor, der ihnen Mandy – seine neue Freundin – vorstellt. Die Überraschung ist gross: Weshalb ist Richard, der intellektuelle Mitfünfziger, mit der jungen und naiven Mandy zusammen? Mandy bringt Ballone mit zum Treffen, plappert munter drauf los. Sie arbeite als Event-Planerin, erzählt sie, worauf Sarah sagt: «Ich habe gewissermassen auch mit Events zu tun: Kriege, Hungersnöte, Genozide.» Mandy lässt sich nicht von Sarahs abschätzigen Blicken und Kommentaren irritieren, stellt neugierig Fragen. Als sie Sarahs Bilder aus dem Irak sieht, ist sie schockiert. «Hättest du diesem verletzten Kind nicht helfen können, statt es zu fotografieren?» Sarahs Antwort: «Mein Job ist es, das Leid zu dokumentieren.»

Mit «Zeitstillstand» hat Pulitzer-Preisträger Donald Margulies ein geistreiches Theaterstück geschrieben, das der Regisseur Pablo Ariel Bursztyn neu inszeniert und auf die Schweizer Bühnen bringt. Das Stück thematisiert vor allem auch das Innenleben der Figuren: Sarah ist Kriegsfotografin geworden, um den Leuten die Augen zu öffnen, um etwas zu verändern. Später wird sie von Flashbacks eingeholt: Einmal sei eine verletzte Frau auf sie zugerannt und habe mit ihrer blutüberströmten Hand die Kameralinse verdeckt. Sarah schämt sich ob dieser Erinnerung: «Ich lebe vom Leiden Fremder.» Die Frage kommt auf, weshalb Sarah den Job macht, wenn die Betroffenen gar nicht wollen, ja sich sogar dagegen wehren, dass ihr Leid dokumentiert wird?

James, der insgeheim von Sarahs Liebschaft mit Tarik ahnte, hat die Hoffnung auf Veränderung aufgegeben. Selbst traumatisiert vom Kriegserleben, will er nur noch «ein normales, langweiliges Leben» führen. Er macht Sarah einen Heiratsantrag, in der Hoffnung, die Beziehung irgendwie zu retten.

Auch Richard hat die Nase voll vom komplizierten Leben. Er sagt über Mandy: «Sie ist nicht brillant. Sie ist ein einfaches, fröhliches Wesen.» Mandy, die für Lebensfreude steht, hätte in diesem Stück das Potenzial für die interessanteste Figur gehabt. Das wurde leider verpasst: Gefühlsduselig statt gefühlsstark wird sie dargestellt. Dümmlich und unbeholfen, statt vif und selbstbewusst. Dabei ist sie die einzige Figur im ganzen Stück, die dem Schrecken nicht mit Abgestumpftheit begegnet.

In vermeintlich banalen Streitereien zwischen Sarah und James entladen sich die tieferliegenden Tragödien: Sarah, die schon ihr Elternhaus als Kriegsschauplatz erlebt hatte, schafft es nicht, James aufrichtig zu lieben. Sie will zurück in den Krieg, wo sie sich nützlich fühlt, und wo die Qualen anderer sie von ihrem eigenen Schmerz ablenken. James macht ihr Vorwürfe: «Du hast keinen Respekt vor deinem eigenen Leben.» Er sehnt sich nach Normalität und danach, das Grauen hinter sich zu lassen: «Ich will Kinder aufwachsen und nicht sterben sehen.» Das Paar trennt sich.

Sarah geht zurück in den Krieg, James lernt jemand anderen kennen. Richard und Mandy werden Eltern. Im nun verlassenen New Yorker Appartement bleiben Fragen hängen: In welcher emotionalen Verfassung muss man sein, um über den Krieg berichten zu können? Was bedeutet Selbstaufopferung? Und Lebensfreude? Wie lebt man in einer wohlhabenden und friedlichen Gesellschaft, im Wissen darum, dass anderswo die Welt vor die Hunde geht?

Ein denkanregender Theaterabend!

Kraftwerk, Zürich
25. Nov. 2017 um 20.30h
26. Nov. 2017 um 18.30h

Theaterwerkstatt Gleis 5, Frauenfeld
1. und 2. Dez. 2017 um 20h

Weitere Informationen: Kodachrome Theater

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