Ein journalistischer Zeitzeuge des politischen Geschehens in Bern: Bernard Wuthrich. Bild: Lea Kloos

Aktuell – 09.05.2022

«Ich bin stolz auf meine 40 Jahre im Journalismus»

Der frisch pensionierte Bundeshauskorrespondent Bernard Wuthrich blickt auf wichtige Ereignisse der Schweizer Politik zurück.

Von Jean-Luc Wenger

In seinem letzten Artikel bevor er am 29. Januar in den Ruhestand ging, ­beschreibt der Journalist Bernard Wuthrich seine fast dreissig Jahre in Bern aus der Perspektive von vier ehemaligen Bundesräten: Micheline Calmy-Rey, Pascal Couchepin, Joseph Deiss und Christoph Blocher.

Seine Leidenschaft für Schweizer Politik ist aber nicht von heute auf morgen verschwunden: Nur knapp zwei Wochen später, am 13. Februar, steht er bei der Abstimmung zur Abschaffung der Stempelabgaben schon wieder im ­Einsatz. Gelegentlich wird er auch künftig für die Tageszeitung Le Temps schreiben und dem Nachwuchs mit wertvollen ­Ratschlägen beiseitestehen – immerhin war Wuthrich seit der Gründung der ­Zeitung 1998 mit von der Partie.

Mit EDITO schaut Wuthrich auf die Veränderungen zurück, die dem Beruf widerfahren sind: «Zunächst waren da die technologische Entwicklung, das Internet, die sozialen Netzwerke. Damit wurde die Zeit immer knapper, um eine Information ­sorgfältig zu überprüfen, wie man es uns noch beigebracht hatte. Die Arbeitsweise hat sich verändert, heute müssen wir uns ständig anpassen.»

Im Gegensatz zu einer weitverbreiteten Meinung glaubt Bernard Wuthrich, dass soziale Netzwerke Volks­abstimmungen (noch) nicht beeinflussen würden. «Doch das wird kommen», meint er. Bereits jetzt sei dies bei den politischen Kampagnen zu beobachten: «Die Slogans und Argumente, die im Vorfeld einer ­Abstimmung verbreitet werden, unterscheiden sich manchmal sehr stark von ­denen, die in den Parlamentsdebatten ­erwähnt werden.»

Historischer Wendepunkt. Wuthrich verweist dabei auf die zunehmende ­Macht der Lobbys. Ein historischer Wende­punkt war laut ihm die Ablehnung des ­Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) am 6. Dezember 1992, der erste grosse Triumph von Christoph Blocher. Wuthrich hatte seine Arbeit in Bern einige Monate vor dem berühmten «schwarzen Sonntag» begonnen – eine Bezeichnung, die auf ­den damaligen Bundesrat Jean-Pascal ­Delamuraz zurückgeht.

Die EWR-Niederlage ebnete den Weg für eine Reihe weiterer Rückschläge, die der Bundesrat und das Parlament erleiden mussten. Ihre Empfehlungen wurden nicht mehr so stark berücksichtigt wie in der Vergangenheit. Als Beispiele nennt er die Alpeninitiative (1994), die Renten­reform (gleich mehrmals), die Minarette (2009), die Ausschaffung krimineller Ausländer (2010), die Lex Weber (2012), das Burkaverbot (2021) und zuletzt die dreifache Niederlage vom 13. Februar dieses Jahres.

«Die Seite wechseln wollte ich nie. Ich bin stolz auf meine 40 Jahre im Journalismus.»

Umgekehrt wurden seit der Ein­führung der Volksinitiative im Jahr 1891 dem Volk 226 Vorschläge zur Änderung der Verfassung unterbreitet: 25 wurden angenommen, 14 davon nach 1992. «Das Klima hat sich gewandelt. In der modernen Schweiz werden immer mehr Initiativen ergriffen. Angesichts der demografischen Entwicklung und dank neuer Instrumente ist es ein Kinderspiel, die erforderliche ­Anzahl Unterschriften in 18 Monaten zu sammeln», erklärt Wuthrich.

Westschweiz im Hintertreffen. Das Thema Mobilität ist – nebst dem Thema Energie – eine der grossen Leidenschaften von Bernard Wuthrich: «In diesem Bereich hinkte die Westschweiz schon immer der Deutschschweiz hinterher. In der Romandie haben wir lange Zeit von ‹Transport› und nicht von ‹Mobilität› gesprochen. Ist die Rede von Transport, bewegt das niemanden. Seit man dagegen von Mobilität spricht, wird klar, dass es nicht nur um den Bau von Strassen oder Eisenbahnstrecken geht, sondern um unseren Alltag.»

Als Mitglied der Vereinigung Bahnjournalisten Schweiz, die viele Besichtigungen im In- und Ausland organisiert, hat Wuthrich die Umsetzung zahlreicher Projekte vor Ort miterlebt. «Ich werde mich auch künftig für dieses Thema, das im Zentrum unserer Gesellschaft steht, interessieren», so der Journalist.

Als er in Bern seine Sachen packte, reduzierte er auch sorgfältig sein Archiv. «Ich hatte zum Beispiel den gesamten ­Bericht Hayek über die Neue Eisenbahn-­Alpentransversale (NEAT) aufbewahrt. In den 1990er-Jahren war das ein unglaubliches Tauziehen zwischen Adolf Ogi und Otto Stich. Schliesslich habe ich aber alles ohne Bedauern weggeworfen. Ich möchte mich nun vor allem Zukunftsprojekten widmen.»

Eine Begegnung, die ihn speziell geprägt hat, ist jene mit Michail Gorbatschow. Wuthrich hatte die Gelegenheit, Gorbatschow als Präsident der Umweltschutz­organisation Green Cross International bei einem Besuch in Bern zu interviewen. ­

Früher seien Journalisten noch willkommen gewesen, um Bundesräte ins Ausland zu begleiten. «So hatten wir Journa­listen ­die Möglichkeit, die persönlichen und privaten Seiten der Regierungs­mitglieder besser kennenzulernen», sagt Wuthrich und fügt an: «Heute sind solche Gelegenheiten zwar nicht völlig verschwunden, aber selten geworden, und die Pandemie hat dabei natürlich auch eine Rolle gespielt. Das ist schade.»

Prägende Momente. Bernard Wuthrich ist in Bern geboren und zweisprachig aufgewachsen. Das hat ihm verschiedentlich auch Angebote für Öffentlichkeitsarbeit eingetragen. «Das wollte ich aber nie. Ich bin stolz auf meine 40 Jahre im Journalismus», sagt er. Während seiner Karriere hat er sich stets für die Interessen des Berufsstandes eingesetzt: 1995 und 1996 war er Präsident des Neuenburger Journalistenverbandes (Association neuchâteloise des journalistes, ANJ) und später mehrere Jahre lang auch im Vorstand der Vereinigung der Bundeshausjournalisten (VBJ).

Als Journalist sei man auf sein Netzwerk angewiesen, müsse dieses ständig pflegen und systematisch auf dem neusten Stand halten, «gerade weil das Parlament alle vier Jahre neu gewählt wird», sagt Wuthrich. «Die Wahlen von 2019 waren etwas ganz Besonderes, weil das Parlament stark ­erneuert wurde. Ich hatte mir einen Zeitplan zurechtgelegt, um die neu gewählten Parlamentarier kennenzulernen. Die Pandemie hat mir aber einen Strich durch die Rechnung gemacht. Nun habe ich Bern verlassen, ohne alle geplanten Kontakte geknüpft zu haben», resümiert Bernard Wuthrich.

In Le Temps gab er einen Überblick über seine fast 30-jährige parlamentarische ­Berichterstattung aus Bern. Insgesamt nahm er an 150 Parlamentssitzungen ­teil und verfolgte 93 eidgenössische Volks­bstimmungen. Jene vom 28. Novem­ber 2021 markierte einen Wendepunkt: Die Strassenproteste gegen das Covid-Zertifikat führten dazu, dass an jenem Sonntag die Umgebung des Bundeshauses verbarri­kadiert wurde. «Die Verwandlung des Bundeshauses in ein verschanztes Lager war regelrecht ein Schock», so Wuthrich.

Ein prägender Moment in seiner Karriere war auch die Abstimmung über die ­Minarette (2009). Bernard Wuthrich war zu dieser Zeit Ressortleiter für Schweizer Politik bei Le Temps – und damit mit einem Fuss in Genf und dem anderen in Bern. ­An jenem Tag hatte er sich in Genf mit ­Micheline Calmy-Rey zu einem Interview verabredet. «Ich erinnere mich noch gut, wie schockiert sie war. Die Abstimmung hat aufgezeigt, dass Umfragen falsch liegen und Emotionen sich durchsetzen können. Dasselbe gilt für das Burkaverbot. Es war offensichtlich, dass die Debatte sehr sen­sibel und emotional war.»

Eine schöne Erinnerung bleibt hingegen die Annahme des UNO-Beitritts der Schweiz im Jahr 2002. «Diese Abstimmung war ganz entscheidend», so der pensionierte Bundeshauskorrespondent. Nicht unerwähnt lassen will er auch die Wahl von Christoph Blocher in den Bundesrat im Jahr 2003 und seine Abwahl vier Jahre später, zwei weitere «wichtige Ereignisse in der modernen Geschichte der Schweiz».


Bernard Wuthrich war 1982 beim damaligen Feuille d’avis de Neuchâtel (FAN) (später: Express, dann ArcInfo) als Praktikant in den Beruf eingestiegen. Später war er bei La Suisse, L’Agefi und dem Journal de Genève (JDG) tätig. Als 1998 Le Temps gegründet wurde, übernahm er das Büro in Bern. Nach 40 Jahren in Bundesbern ist bei ihm aber kein Funken von Nostalgie auszumachen: «Meine Zeit ist abge­laufen, jetzt mache ich Platz für die Jungen.» Doch er kann stolz auf seine Karriere sein.

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