Die israelische Zeitung «Haaretz» stellt sich schützend vor ihren Kolumnisten Gideon Levy.

Aktuell – 01.10.2019

Haaretz-Kolumnist Gideon Levy: «Ich werde mit zunehmendem Alter radikaler»

Israels bekannteste Zeitung Haaretz gibt es seit 100 Jahren. Die schillerndste Person, welche die Zeitung in all der Zeit hervorgebracht hat, ist Gideon Levy. Er hält sich mit scharfer Kritik nicht zurück und gehört deshalb zu Israels unbeliebtesten Personen.

Von Joëlle Weil, Tel Aviv

EDITO: Wie viele E-Mails erhalten Sie, wenn Sie in Ihrer Kolumne das Wort «Apartheid» schreiben?

Gideon Levy: Das hat sich sehr beruhigt. Noch vor fünf Jahren war das anders. Damals hat der Begriff «Apartheid» noch die Gemüter erregt und für Aufschrei gesorgt. Heute ist es vielen egal. Ich weiss nicht, was schlimmer ist: die Gleichgültigkeit der Bevölkerung über die Umstände oder die Umstände selbst. Und es gefällt mir auch überhaupt nicht, dass dieser Begriff heute so inflationär verwendet wird. Es führt dazu, dass ein solcher Zustand, wie wir ihn in Israel heute haben, als normal empfunden wird. Wir leben hier in einer Apartheid: Zwei Völker teilen sich ein Land. Die einen haben alle Rechte, die anderen keine und die Welt will das leider nicht erkennen.

Daran tragen Sie doch Mitschuld.

Das ist schon wahr. Aber ich gehörte zu dem Teil der Schreibenden, der konstant an die Missstände erinnern will. Leider hat sich alles anders entwickelt, nicht wie ich mir das gewünscht habe.

Vielleicht hat man sich in Israel nicht an den Gebrauch des Wortes gewöhnt, sondern einfach nur an Gideon Levys Ausdrucksweise …

Das bestimmt auch. Das Schlimmste für mich ist jedoch, dass sich die Israelis gar nicht mehr für das Thema interessieren. Jeder interessiert sich nur für sich selbst, während die Skandale unbeachtet kommen und gehen. Das finde ich viel schlimmer als Leute, die zornig auf meine Schreibe reagieren. Die Bevölkerung ist in eine Art Trance verfallen, so dass man mittlerweile alles sagen kann.

Erinnern Sie sich an die Reaktionen zu Beginn Ihrer Kolumne?

Relativ am Anfang, im Jahr 1988, schrieb ich über eine Palästinenserin im Westjordanland, die ein Kind erwartete. Sie versuchte, durch drei Checkpoints nach Israel zu gelangen, wurde aber nirgends durchgelassen. Die Frau gebärte ihr Kind schliesslich draussen und musste danach 2,5 Kilometer zu Fuss bis zum Auguste-Viktoria-Spital in der Westbank zurücklegen. Das Baby starb tragischerweise auf dem Weg. Mit dieser Geschichte erreichte ich damals viele Menschen, sogar auf Regierungsebene. Seither habe ich über sieben weitere solche Fälle geschrieben, aber mittlerweile berühren diese Geschichten keinen mehr.

Wo würden Sie publizieren, gäbe es Haaretz nicht?

Ich bin mir sicher: Nirgendwo. Keine andere Zeitung in Israel nimmt ihren Bildungsauftrag so ernst wie Haaretz. Es gibt ­hier viele unangenehme Geschichten, die erzählt werden müssen, aber die natürlich nicht schön zu lesen sind. Haaretz deckt ­­zwar auch nicht immer die ganze Realität ab, aber kommt ­dem, ­woran ich glaube, ziemlich nah. Zudem stellt sich die Zeitung immer wieder schützend vor mich. Derzeit geniesse ich alle Freiheiten, die man als Schreibender haben kann. Aber der israelische Staat hegt faschistische Tendenzen, welche für Journalisten wie mich eines Tages zum Problem werden können.

Sie haben Haaretz in der Vergangenheit viel Geld gekostet und trotzdem schreiben Sie noch für sie …

Schätzungsweise über eine halbe Million Dollar hat Haaretz ­verloren, nachdem ich 2014 während des Gaza-Krieges in einem Artikel die Piloten der israelischen Flugwaffe kritisiert hatte. Etwa hundert Leser haben ihre Mitgliedschaft gekündigt. Die finan­ziellen Folgen dieser Kolumne waren schwer zu tragen, insbesondere in Zeiten wie diesen, in denen Print- und Onlinemedien generell zu kämpfen haben. Haaretz hat aber die Verantwortung übernommen.

«Ich berichte nicht einfach nur vom SChreibtisch aus.»

Gideon Levy, Haaretz-Kolumnist

Sie sind heute Israels bekanntester Kolumnist, obwohl man Sie in Israel grösstenteils überhaupt nicht mag. Wie erklären Sie sich das?

Darauf habe ich keine gute Antwort. Natürlich freut mich meine Popularität und die basiert bestimmt auf meiner Authentizität und Aggressivität. Seit über dreissig Jahren reise ich jede Woche in die Westbank, schaue mir dort unterschiedliche Orte und Schicksale an. Ich berichte nicht einfach vom Schreibtisch aus. Schon immer versucht man mir Lügen anzuhängen. Diese ­ständige Aufmerksamkeit und Debatte um meine Person gibt mir aber Gewicht.

Sie erlebten auch harten Widerstand aus der Bevölkerung: Während des Gaza-Krieges 2014 waren Sie auf Personenschutz angewiesen.

Das war eine schlimme Zeit. Es wurde ordentlich gegen mich gehetzt und ich wurde einige Male angegriffen. Sogar vor meiner eigenen Haustür in Tel Aviv. Das war nach der Publikation meines Flugwaffen-Artikels. Am Carmel-Markt in Tel Aviv wurde ich angespuckt und an der Strandpromenade konnte ich gerade noch mit dem Velo flüchten, bevor die Situation eskalierte. Auch nach einem TV-Interview in der Hauptsendezeit wurde es für mich brenzlig. Da versammelte sich eine wütende Meute um mich herum und ich musste so schnell ­­wie möglich weg. Verschiedene Kollegen und Bekannte rieten mir damals, Personenschutz beizuziehen, und das tat ich auch ­während zweier Monate. Ich hatte berechtigte Angst, zusammen­geschlagen zu werden.

Sehen Sie sich eher als Journalist oder Aktivist?

Auf keinen Fall bin ich Aktivist. Ich habe noch nie eine Petition ­unterschrieben oder bei einer Demonstration teilgenommen. Ich gehe nur journalistischen Aktivitäten nach, niemals aktivistischen. Diese Grenze behalte ich immer im Auge.

Aber Ihr Journalismus verfolgt eine klare Agenda.

Aber es ist noch immer Journalismus. Ich ärgere mich sehr über ­Kollegen, die politisch aktiv sind.

Ihre politische Haltung war nicht immer so extrem, wie sie heute ist. ­Sie sagten einst, dass Sie früher Opfer einer Gehirnwäsche waren. Denken Sie so über alle Andersdenkenden oder über Kolleginnen und Kollegen?

Die Gehirnwäsche bezieht sich nicht auf die Meinung, sondern auf den Wissensstand. Es braucht nicht jeder meine Meinung zu teilen. Aber ich wünsche mir, dass jeder Israeli weiss, was in seinem Namen in unserem Land passiert. Man kann das gut finden oder nicht, aber man muss die Realität kennen und die meisten wollen das nicht.

Wann haben Sie angefangen, Ihre Meinung zu radikalisieren?

Das war ein fortlaufender Prozess. Vor zwei, drei Jahren habe ich meine Meinung das letzte Mal drastisch geändert: Ich will heute keine Zweistaatenlösung mehr. Ich glaube auch nicht mehr daran. Ich wünsche mir heute einen Staat, in dem alle über dieselben Rechte und Pflichten verfügen. Ich werde mit zunehmendem Alter radikaler. Ich glaube auch, dass wir mit der in Gaza regierenden Hamas verhandeln müssen. Und auch wenn ich die Hamas als Terrorgruppe sehe, so frage ich: Ist ­die israelische Seite das nicht auch? Terrorismus ist eine Interpre­tationssache und beide Seiten betreiben meiner Meinung nach Terror.

Steht Ihre Familie hinter Ihnen?

Meine schwedische Partnerin teilt meine politische Haltung. ­Es ist kein Zufall, dass weder sie noch meine ehemaligen Partnerinnen keine Israelinnen waren. Es war für mich immer schwer, mit Israelinnen auszugehen, wegen meiner radikalen Haltungen. Meine beiden Kinder lesen meine Kolumne nicht. Sie sind weder meiner Meinung noch interessieren sie sich für die ­Nachrichten. So politisch ich als Person bin, so unpolitisch bin ich als Vater.

Gideon Levy
Haaretz-Kolumnist

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