Sie schreibt und schreibt und schreibt
Auch elf Jahre nach ihrer Pensionierung strotzt Margrit Sprecher vor Schaffensdrang. Trotzdem, sagt sie, falle ihr das Schreiben bis heute nicht leicht. Jungen KollegInnen empfiehlt sie, sich zu spezialisieren.
KLARTEXT: Sie sind eben von einem längeren Aufenthalt aus Irland zurückgekommen – waren Sie in den Ferien oder haben Sie gearbeitet?
Margrit Sprecher: Ich habe als Ghostwriterin gearbeitet. Das Buch, eine Biografie, wird ohne meinen Namen erscheinen. Ich habe es sehr genossen, zur Abwechslung nicht eine eigene Arbeit zu schreiben, sondern bei einem fremden Werk die anonyme Hebamme zu spielen. Dazu kamen noch ein paar kleinere Artikel.
KT: Arbeiten Sie eigentlich gleich viel wie früher, als Sie Redaktorin waren?
Sprecher: Beinahe, denn es gibt nichts Spannenderes. Das Schreiben selbst ist zwar eine Höllenqual, und die Mühe wird auch nach vielen Berufsjahren nicht kleiner, im Gegenteil. Aber in unserem Beruf können wir in jedes Milieu eintauchen, das uns interessiert, alles aus erster Hand erfahren und jeden Menschen, von dem wir schon immer wissen wollten, wie er wirklich ist, kennenlernen und Fragen stellen, die wir uns als Privatpersonen nie zu stellen trauten. Und schliesslich können wir wieder gehen und haben nichts mehr mit diesem Menschen zu tun.
KT: Das ist auch eine gewisse Oberflächlichkeit.
Sprecher: Diese Oberflächlichkeit gibt es natürlich. Wobei die Oberfläche, wenn sie präzis ausgeleuchtet ist, natürlich auch ihren Reiz hat. Wir müssen uns wohl an solche Momentaufnahmen gewöhnen, denn mehr als eine Stunde Zeit für ein Interview bekommen wir kaum mehr – manchmal sind es sogar nur zwanzig Minuten. Früher standen uns die Interviewpartner oft einen ganzen Tag oder noch länger zur Verfügung. Dieser Luxus verführte mich anfangs dazu, mich völlig unvorbereitet in ein Interview zu stürzen. Nach dem Motto: Irgendwas wird schon herauskommen. Oft klappte das sogar. Man konnte das Gespräch ohne Fragenkatalog fliessen lassen, wo immer es hinwollte, und entdeckte ganz neue Seiten an Prominenten. Heute ist das nicht mehr möglich, heute musst du schon in der ersten Minute wissen, was du willst und wohin du willst.
KT: Journalismus ist vergänglich. Hat es Sie nie gereizt, Literatur zu schreiben?
Sprecher: Ich liebe Vergängliches. Journalismus sollte Journalismus bleiben. Wir sind keine verkannten Schriftsteller, wir schreiben für den Tag. Deshalb finde ich es auch problematisch, wenn Reportagen in Büchern erscheinen. Häufig sieht man erst dann, wie zeitgebunden sie sind.
KT: Aber in letzter Zeit sind zwei Bücher von Ihnen erschienen.
Sprecher: Es waren eigentlich zwei grosse Reportagen, deren Umfang jedes Magazinformat gesprengt hätte. Die Idee zum SVP-Buch stammte vom Fotografen Fabian Biasio. Wir wollten jenes Drittel der Schweizer porträtieren, das SVP wählt und das niemand wirklich kennt. Stets ist nur von Blocher, Mörgeli, Brunner die Rede. Wie aber sieht das Fussvolk aus? Was bewegt die Leute, in diese Partei einzutreten? Wir sind in der ganzen Schweiz herumgereist, ohne Auto notabene, von Wohnung zu Häuschen, von Essecke zu Essecke – alle SVPler haben Essecken und eine Schale mit Obst auf dem Tisch. Wir haben entdeckt, dass viele ein persönliches Erlebnis in die Partei getrieben hat: Sie fanden vielleicht eine Busse ungerecht oder verloren vor Gericht einen Prozess. Sie heirateten eine Ausländerin, die sich scheiden liess, oder wurden von einem Invaliden ausgetrickst. Und sehr viele SVPler suchen schlicht die Wärme einer Familie: In dieser Partei bleibt niemand allein, wie in einer Sekte. Man verbringt gemeinsam den Sonntag, isst und trinkt gut und reichlich miteinander, und kranke Parteimitglieder werden im Spital besucht. Alle waren entsetzlich nett zu uns und haben uns «B’haltis» mitgegeben für den langen Weg zurück in die Stadt. Das machte es nachher, beim Schreiben, schwierig, wieder die nötige Distanz zu finden.
KT: Haben Sie mit den Leuten auch politisch diskutiert?
Sprecher: Dann hätte ich fünfzig Mal das gleiche Interview mit den gleichen Argumenten und Gegenargumenten schreiben müssen – eine eher öde Sache. Wir machten ihnen von Anfang an klar, dass es uns um sie persönlich geht, dass sie sich so darstellen können, wie sie sich selbst sehen, und dass sie ihr Porträt lesen und korrigieren können. Das war schon deshalb nötig, weil die meisten uns gegenüber zuerst sehr misstrauisch eingestellt waren. Ein SVP-Mitglied empfindet die Schweizer Medien als durchwegs links und feindlich. Auf die gleiche Weise gehe ich übrigens auch an meine andern Interviews heran: Ich bin nur der Spiegel, der das Bild wiedergibt, das mein Interviewpartner von sich selbst hat.
KT: Sie haben ja in Ihrem letzten Buch DRS 2 gespiegelt. Das gab einen ziemlichen Aufruhr. Würden Sie das Buch auch heute noch schreiben?
Sprecher: Die Folgen stören mich überhaupt nicht – lieber solche als gar keine. Und eigentlich zeigt der Wirbel ja nur, dass es mir gelungen ist zu zeigen, was ich zeigen wollte: die unheilvolle Wechselwirkung zwischen DRS 2 und seinem Publikum. Wie die Radiocrew, überspitzt gesagt, in die erpresserischen Fänge ihrer Hörerschaft geraten ist und viel Geld dafür ausgibt, deren Geschmack und Bedürfnisse zu befriedigen. Trotzdem würde ich das Buch nicht mehr schreiben: Ein Jahr meines Lebens in dieses Projekt zu investieren, das war zu viel Aufwand.
KT: Sie haben ja ausser über DRS 2 in letzter Zeit auch sonst viel über Medien geschrieben, etwa zwei grosse Porträts von Martin Kall und Hanspeter Lebrument.
Sprecher: Das ist reiner Zufall. Ich plane nichts. Wenn ein Thema auf mich zukommt und mich interessiert, dann mache ich es. Beim DRS-2-Buch freilich schlug ich erst etliche Kolleginnen und Kollegen vor, die mir geeigneter schienen, denn ich verstehe nichts von Radio. Doch es war, so sagte man mir, just mein Blick von aussen, der sie interessierte. Kall und Lebrument habe ich porträtiert, weil ich Mit-Herausgeberin des «Schweizer Journalist» bin und denke, als Herausgeberin muss man einmal im Jahr selbst einen Artikel schreiben.
KT: Müssen Sie?
Sprecher: Nein, natürlich nicht. Aber ich kann mir meine Interviewpartner selbst aussuchen, und das macht es spannend. Kall interessierte mich, weil es in den Archiven praktisch nichts über ihn gibt. Während des Interviews – auch nur eine Stunde – hatte er einen Stapel von ausgedruckten Papieren vor sich liegen, in denen alles über mich stand. Und ich hatte nichts über ihn (lacht). Das Lebrument-Porträt zu schreiben, war für mich als Bündnerin natürlich ein besonderes Vergnügen.
KT: War es einfach?
Sprecher: Wie alle Patriarchen ist Lebrument so von sich selbst überzeugt, dass er glaubt, man könne ihn gar nicht unvorteilhaft darstellen. Ausserdem ist er es gewöhnt, dass die Leute das schreiben, was ihm passt. Als ihn Kollegen später auf mein Porträt ansprachen, behauptete er, er habe es gar nicht gelesen.
KT: Ihre erste Stelle als Journalistin hatten Sie bei der «Elle», dann kamen Sie zur «Weltwoche», wo Sie unbedingt arbeiten wollten. Wofür stand die «Weltwoche» damals?
Sprecher: Sie stand für mich vor allem für das Weltläufige, Liberale. Bei einer Frauenzeitschrift sind die Themen naturgemäss eng gesteckt. Bei der «Weltwoche» wurde die ganze Welt zur Bühne. Wer hier schrieb, wurde ernst genommen und nicht nur unter der Coiffeurhaube gelesen.
KT: Sie sind dort in eine Männergesellschaft gekommen und mussten das neue Ressort «Leben heute», das Sie leiteten, verteidigen. Wie haben Sie erreicht, was Sie sich gewünscht haben?
Sprecher: Es war wirklich eine reine Männerzeitung, und als Frau konnte ich praktisch unter dem Radar durchschlüpfen. Ich bin gar nie richtig ins Visier vom damaligen Chefredaktor Hans O. Staub geraten, das war mein Glück. Freilich kam ich auch hier von den Frauenthemen nicht los. Denn geholt hatte man mich, weil die «Weltwoche» damals kaum Leserinnen hatte und das Blatt einen Bund brauchte, der speziell den weiblichen Geschmack bediente – weiche Themen, ein bisschen Mode, ein bisschen Kochen, dazu Gesellschaft. Weil die Chefredaktion vermutlich unsern Bund gar nie richtig las, entwickelten wir ziemlich rasch ein Eigenleben nach unserem Geschmack.
KT: Ressortleiterin war die einzige Leitungsfunktion, die Sie je hatten. Weshalb?
Sprecher: Ich wollte nie eine Leitungsfunktion haben, sondern immer auf der Macherseite bleiben. Ein Ressort mit vier Leuten wie bei «Leben heute» war eine ideale Grösse. Ein Ressortleiter hat ungefähr die gleiche Stellung wie der Korporal im Militär: Er hat sein eigenes Schlafzimmer, muss nicht im Mannschaftsraum schlafen, hat eine gewisse Freiheit, ist aber doch nicht verantwortlich fürs Ganze. Wir arbeiteten damals mit vielen freien Mitarbeitern. Etliche heutige Stars schrieben damals ihren ersten Artikel bei uns. Das war schön.
KT: Während Ihrer «Weltwoche»-Zeit wurden Sie auch als Gerichtsreporterin bekannt. Was hat Sie an der Gerichtsberichterstattung gereizt?
Sprecher: Es ist die bequemste journalistische Form, die man sich denken kann: Man erhält alles Wissenswerte in der Anklageschrift geliefert, sitzt komfortabel in der ersten Reihe, muss keine Fragen stellen, und der Angeklagte entblättert sich von allein. Mehr Drama in so kurzer Zeit gibt es nirgendwo. Vor allem aber hat mich die Gerichtsberichterstattung interessiert, weil es sie vor zwanzig Jahren gar nicht gab. Die Gerichtsreporter schrieben mehr oder weniger die Anklageschrift des Staatsanwalts ab und stellten das Urteil dazu. Meine Ambition war, zu zeigen, dass sich der Angeklagte oder die Angeklagte nicht gross von uns Nichtkriminellen unterscheidet. Vielfach hatten sie nur das Pech, in eine falsche Familie hineingeboren zu sein und zur falschen Zeit am falschen Ort zu stehen. Ich habe die Gerichtsberichterstattung als Sozialkritik empfunden.
KT: Sie haben sehr lange bei der «Weltwoche» gearbeitet, nach der Pensionierung dann als freie Mitarbeiterin. Vor vier Jahren machten Sie einen klaren Schnitt und sagten: «Für ein SVP-Parteiblatt schreibe ich nicht mehr.» Dennoch sind seither Texte von Ihnen in der «Weltwoche» erschienen.
Sprecher: Das Porträt von Martin Kall, das in der «Weltwoche» erschienen ist, haben sie aus dem «Schweizer Journalist» übernommen. Und ich pflege keine Feindschaft zur «Weltwoche». Im Gegenteil, ich bewundere Roger Köppel: Die Leserzahlen sinken, und er bleibt bei seinem Kurs.
KT: Was bedeuten Ihnen die vielen Preise und Auszeichnungen, mit denen Ihre Arbeit im Laufe des Berufslebens honoriert wurde?
Sprecher: Nach jeder Preisverleihung stand ich unter einem Bestätigungsdruck, der sich leider auch in Schreibhemmungen ausdrückte: Bin ich noch so gut wie im prämierten Text? Dabei weiss ich selbst nur zu gut aus den Jurys, in denen ich mitmache, dass keinesfalls immer der beste Text gewinnt und dass sehr viel Zufall mitspielt, ob jemand einen Preis bekommt oder nicht. Das Lob ist also relativ, weshalb man sich nicht allzu viele Gedanken darüber machen sollte.
KT: Sie sind Jury-Mitglied des Zürcher Journalistenpreises. Da gab es eine Kontroverse um Daniel Hug und Charlotte Jacquemart von der «NZZ am Sonntag», die 2007 für ihre Recherchen im Fall Thomas Matter/Swissfirst ausgezeichnet wurden. Aufgrund heutiger Erkenntnisse würden die beiden wohl nicht mehr prämiert. Sollte man ihnen den Preis aberkennen?
Sprecher: Diese Frage ist ganz schwierig zu beantworten. Grundsätzlich gilt: Die Jury kann nicht jeden der rund 200 eingereichten Artikel von einem Anwalt juristisch auf seine Hieb- und Stichfestigkeit prüfen lassen. In diesem konkreten Fall verliessen wir uns zudem darauf, dass es sich um einen NZZ-Text handelte, deren Wirtschaftsteil für seine Seriosität bekannt ist. Viel schlimmer aber als einen womöglich zu Unrecht behaltenen Preis finde ich die Folgen für die Jury. In Zukunft wird sie grössere Zurückhaltung bei brisanten Themen zeigen, um spätere Schwierigkeiten zu vermeiden. So droht die Gefahr, dass der Mut investigativer Journalisten nicht mehr in jedem Fall belohnt wird.
KT: Ihre Texte erscheinen heute in der «Zeit», im «NZZ Folio», im «Bund» oder in der WOZ: Bieten Sie die Texte an oder erhalten Sie Aufträge?
Sprecher: Die Redaktionen kommen auf mich zu. Manchmal mit einem vorgegebenen Thema wie eben das «NZZ-Folio», das für sein «Lehrling»-Heft einen Lehrling suchte, der es auch ohne Hochschulstudium ganz nach oben geschafft hat. So entstand das Porträt von Philippe Gaydoul. Häufiger kommt die Frage: Schreibst du wieder mal was für uns? Dann liegt es an mir, ein Thema zu suchen. Das ist nicht nur ein Vorteil. Denn wenn man schon so lange im Beruf ist wie ich, hat man fast alle Themen schon mal gemacht und das Gefühl des «déjà lu» überkommt einen leicht.
KT: Sie sind privilegiert. Junge Kolleginnen und Kollegen, die im freien Journalismus Fuss fassen wollen, hören von Redaktionen nur noch, dass kein Geld vorhanden sei.
Sprecher: Wir sind zur Austauschware geworden. Es ist entwürdigend, wie mit den Jungen umgegangen wird. Ihre Artikel werden zusammengestrichen oder, noch schlimmer, der bestellte Text erscheint nie und wird auch nicht bezahlt. Das beschädigt das Wichtigste, das man in unserem Beruf haben muss: Selbstvertrauen. Der beste Ratschlag, den ich jungen Kolleginnen und Kollegen geben kann: Versucht euch zu spezialisieren, auf irgendeinem Gebiet Fachmann oder Fachfrau zu werden, wo ihr nicht so leicht eliminiert werden könnt.
KT: Sie selbst sind aber Allrounderin geblieben.
Sprecher: Ich habe mich über die Formen spezialisiert, mit Porträts und Reportagen. Bei den Themen habe ich mich nie festgelegt. Man hat einfach mehr vom Beruf, er wird spannender, wenn man heute ins CERN nach Genf gehen kann, morgen zu einem Sexualforscher und übermorgen an eine Bundesratswahl. Dagegen kann ich keine Leitartikel schreiben und tue mich wahnsinnig schwer mit Kolumnen. Ich brauche den Anstoss von aussen, muss etwas sehen, damit mir etwas dazu einfällt.
KT: Gibt es ein Thema, über das Sie gerne und mit Herzblut schreiben?
Sprecher: Ja, über die Palästinenser. Aber solche Geschichten kann man heute nirgendwo unterbringen, die Angst der Zeitungen, als antisemitisch zu gelten, ist zu gross. Zwei, drei Mal habe ich über Bauern im Westjordanland geschrieben und auch bei ihnen gewohnt. Ich habe mitverfolgt, wie die Bagger der israelischen Besatzungsmacht ihre Olivenbäume umwarfen und die Mauer, die sie von ihren Orangenhainen trennte, immer höher wurde. Die Israeli öffnen das Tor zum Bewässern oder Ernten höchstens einmal in der Woche und sagen nie im Voraus, wann.
KT: Woher kommt Ihr Interesse an diesem Thema?
Sprecher: Wenn ich Zeugin derartigen Unrechts werde, wenn ich sehe, wie ein Volk systematisch gedemütigt und schikaniert wird …
KT: Das gibt es auch anderswo auf der Welt. Die Palästinenser sind nicht die einzigen unterdrückten Menschen.
Sprecher: Natürlich, aber der ganze Kulturkreis ist uns so nahe. In Israel leben Leute wie wir, viele kommen aus Europa, teilen unser Gedankengut. Israel ist eine Demokratie. Deshalb stört mich das umso mehr.
KT: Sie haben Ihre ersten Artikel auf der Schreibmaschine geschrieben, heute arbeiten Sie mit Computer und Internet. Was ist dabei die grösste Veränderung?
Sprecher: Es ist natürlich wunderbar, dass man heute in Sekundenschnelle Textblöcke verschieben und korrigieren kann. Andererseits: Jeder am Computer geschriebene Text sieht so tadellos und glatt aus, dass du denkst, er sei auch tadellos. Zum Recherchieren geh ich aber praktisch nie ins Netz. Was ich dort finde, ist mir irgendwie zu durchgekaut.
- Tags: Ausgabe 5 | 2009, Interview, Journalismus, Sprecher
- Kommentare deaktiviert für Sie schreibt und schreibt und schreibt