Der Titel bleibt, der Inhalt wird anders
Die Anzeichen verdichten sich, dass die einst „stärkste Zeitung der Schweiz“ ihre angestammten Gefilde verlassen soll: „Blick“ bald ohne „Sex and Crime“, mit mehr Hintergrund und längeren Reportagen. Das sei weiterhin Boulevard, behaupten die Ringier-Chefs.
Verleger Michael Ringier (58) begab sich jüngst auf eine ausgedehnte Werbetour durch den deutschsprachigen Blätterwald. In eigener Sache, für sein Unternehmen und nicht zuletzt für den neuen „Blick“. Allein im September stand der Ringier-Patron bei drei Gelegenheiten grossen Medien ausführlich Rede und Antwort: den ganzen Monat über in fünf Folgen beim „Magazin“, dann bei der „Tageszeitung“ taz in Berlin und schliesslich als krönender Abschluss in München bei der „Süddeutschen Zeitung“. Gesammelte Verlegerweisheiten, festgehalten mit 50’000 Zeichen. Ein Takt, bei dem die Konkurrenz nicht mithalten kann – oder will. Michael Ringier ist derzeit ein gefragter Gesprächspartner, weil in seinem Verlagshaus etliche Veränderungen anstehen und bereits vollzogene der Erklärung bedürfen. Zweifellos die grösste Ringier-Baustelle im Inland ist der „Blick“.
Kluge, kultivierte Zeitung?
Viel wurde und wird weiterhin spekuliert, wie und ob die einst „stärkste Zeitung der Schweiz“ dank einem neuen Konzept wieder zurück zur alten Stärke findet. So viel ist heute klar: Boulevard ist passé. Während Michael Ringier zögerlich am Begriff festhält und gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“ auf die Frage, ob „Blick“ ein Boulevardblatt bleibe, ausweichend mit einem „Ja, aber …“ antwortet, bringt es Daniel Pillard, Chef von Ringier Schweiz, im KLARTEXT-Interview (ab Seite 12) auf den Punkt: Heute sei in der Schweiz Boulevard nur noch minus „Sex and Crime“ möglich. Also ohne die beiden konstituierenden Elemente des Genres. Damit verkommt Boulevard definitiv zur Leerformel, an der die Ringier-Chefs aus Nostalgie oder Marketinggründen vorläufig noch festhalten.
Vom angedachten Neuauftritt ist heute freilich noch gar nichts zu spüren. Eben erst hat „Blick“ mit der Berichterstattung zum Fall Ylenia alle Crime-Register in guter alter Manier gezogen. Über den Fall Ylenia hätte sich auch weniger hektisch berichten lassen; „nah dran“ erfordert nicht zwingend die Mittel des Boulevard. Welche Linie eine Redaktion wählt, bestimmen die Verlagsoberen mit ihrer Einschätzung der Erfolgschancen auf dem Markt.
Mit dem neuen „Blick“, der spätestens im kommenden März das Licht der Welt erblicken soll, will Michael Ringier „mehr anbieten, aufwendigen Journalismus, anspruchsvollen Service und spektakuläre Inszenierung“. In journalistische Formen übersetzt heisst das für ihn „mehr Magazingeschichten (…), längere Reportagen und Hintergrundstücke“. Klingt alles irgendwie gar nicht nach dem, was Fachleute gemeinhin als Boulevard definieren. Gut möglich, dass Verleger Michael Ringier nach der Neulancierung des „Blick“ nie mehr die ihm lästige Frage beantworten muss – zuletzt so gestellt von Res Strehle im „Magazin“ –, warum es Ringier eigentlich nie geschafft habe, in der Schweiz eine kluge oder gar kultivierte Zeitung zu etablieren.
Das Personenkarussell dreht sich
Dass man es ernst meint mit einer grundlegenden Neuausrichtung der weiterhin unter Auflagenschwund leidenden Tageszeitung, zeigen wichtige Personalentscheide. Als neuen stellvertretenden „Blick“-Chefredaktor hat Ringier den langjährigen „Weltwoche“-Reporter Walter De Gregorio eingewechselt. Ebenfalls vom Köppel-Blatt an die Dufourstrasse zieht es den ehemaligen Jungliteraten und TV-Kritiker Gion Mathias Cavelty. Nicht ganz ins Bild passt hingegen die Entlassung von Klaus Zaugg. Den Entscheid, sich vom Ressortleiter Eishockey zu trennen, begründete Redaktionsdirektor Marc Walder im Branchendienst persoenlich.com damit, dass Zaugg sich in erster Linie als Autor sehe und sich den „langen journalistischen Strecken“ zuwenden möchte. Also genau das tun will, was Ringier und Pillard vom neuen „Blick“ erwarten. Doch halten wir fest: Bei aller Widersprüchlichkeit weisen die bekannten Indizien deutlich auf einen Kurswechsel hin. Die Puzzleteilchen passen alle erstaunlich gut zusammen. Nur eines tanzt, auf den ersten Blick zumindest, aus der Reihe: die kürzlich rundum erneuerte Webseite blick.ch.
Alte Männer und das Netz
Anfang Oktober hat die Internet-Präsenz von „Blick“ ein neues Kleid erhalten. Und das entspricht überhaupt nicht den Vorgaben, wie sie Ringier und Pillard zum bevorstehenden Zeitungsrelaunch formulieren. Wenn Pillard im KLARTEXT-Interview postuliert, im gedruckten „Blick“ die Rubriken zu reduzieren, dann besteht im Netz hierzu Nachholbedarf. Weit über 20 Anrisselemente präsentiert die Startseite unter blick.ch. Auch was die Inhalte angeht, wandelt die Online-Redaktion auf dem traditionellen Boulevard. Viel „Sex and Crime“, People und Promis. Hintergründiges bleibt rar. Daneben ein paar neue Multimedia-Elemente wie eine tägliche Web-TV-Show. Will blick.ch Form und Inhalt des neuen „Blick“ im Internet angemessen abbilden, können die Verantwortlichen kaum umhin, die Webseite noch einmal anzupassen.
Womit die Internetstrategen von „Blick“ sicher nicht rechnen dürfen, ist mit dem übermässigen Engagement der Unternehmensspitze: Papier geniesst bei Ringier immer noch die höchste Priorität. Sowohl Verleger Michael Ringier, als auch Frank A. Meyer, der publizistische Vordenker des Hauses, sind bekannt als Internetskeptiker. Im Gleichklang sagen Ringier und Meyer: „Im Internet finden Sie nur, was Sie suchen.“ Was natürlich völliger Humbug ist. Wenn es heute ein Medium gibt, das Zufallsfunde begünstigt, dann das Internet. Was sich hinter einem Link genau verbirgt, erfährt man erst nach dem Anklicken.
Mit ihren öffentlich mehrfach geäusserten Vorbehalten dem Internet gegenüber fährt die Ringier-Spitze einen anderen Kurs als die Konkurrenz. Bei Tamedia erfolgt der massive Ausbau des Engagements im Internet auf Anregung der Chefetage (vgl. Seite 30).
- Tags: Ausgabe 5 | 2007, Printmedien
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