Journalismus und Idioten-Kultur
Carl Bernstein über die US-Medien – 20 Jahre nach Watergate*
Das Drama, das mit dem Watergate-Einbruch begann und mit dem Rücktritt von Richard Nixon endete, liegt nun schon beinahe eine ganze Generation zurück – 20 Jahre, in denen die amerikanische Presse in einer eigenartigen Hektik damit beschäftigt war, sich für ihre Leistungen in dieser Affäre und danach gleichzeitig selbst zu beglückwünschen und zu verteidigen.
Das Eigenlob ist nicht berechtigt, die Rechtfertigungen sind es leider. Denn immer mehr ist jenes Amerika, wie es in den amerikanischen Medien dargestellt wird, trügerisch und täuschend – verzerrt, irreal, ohne Bezug zu unserem wirklichen Leben. Bei der Darstellung des amerikanischen Lebens finden die Medien wöchentlich, täglich, stündlich neue Wege, es falsch zu machen. Die Darstellung ist verzerrt durch die Anbetung von Berühmtheiten; durch die Reduktion der Information auf Klatsch; durch Sensationshascherei, was immer ein Abwenden vom politischen und sozialen Gespräch bedeutet – ein Gespräch, das wir alle, die Presse, die Medien allgemein, die Politiker und das Volk, in eine Kloake verwandeln.
Zurück zu Watergate. Es gibt aus dieser Affäre einiges zu lernen, vor allem über die Presse. Vor 20 Jahren, im Juni 1972, begannen Bob Woodward und ich, uns für die “Washington Post” mit der Watergate-Geschichte zu beschäftigen. Zur Zeit des Einbruchs arbeiteten rund 2000 vollamtliche Reporter in Washington, DC. In den folgenden sechs Monaten setzten die Medien nur 14 dieser 2000 Journalistinnen und Journalisten ganz auf die Watergate-Geschichte an. Und von diesen 14 waren nur sechs auch wirklich mit Recherchieren beschäftigt und begnügten sich nicht mit täglichen Statements und Gerichtsberichterstattung, sondern versuchten selbst herauszufinden, was genau geschehen war.
Trotz der Mythologie, welche den sogenannten Recherchier-Journalismus umgibt, ist es wichtig, sich daran zu erinnern, was wir bei Watergate wirklich getan und nicht getan haben. Denn was wir getan haben, war in Wirklichkeit nicht so exotisch. Unsere Arbeit bei der Aufdeckung dieser Geschichte basierte auf schlichter faktensammelnder Polizeiberichterstattung. Wir verliessen uns vor allem auf unsere Schuhsohlen, auf den gesunden Menschenverstand und auf den Respekt vor der Wahrheit.
Woodward und ich waren zwei gewöhnliche Lokalreporter, die auf einen Fall angesetzt waren, der im Grunde ein gewöhnlicher Einbruch war. Deshalb wendeten wir die einzigen journalistischen Techniken an, die wir kannten: Wir klopften an viele Türen, stellten viele Fragen und verbrachten viel Zeit mit Zuhören – einfach all die Dinge, die gute Reporter seit Jahren tun. Als Lokalreporter hatten wir keinen Zugang zu hochgestellten Informanten, kein Spesenbudget, mit dessen Hilfe wir die Mächtigen in feinen französischen Restaurants hätten umgarnen können. Wir taten unsere Arbeit fern der verführerischen Welt der Reichen, Berühmten und Mächtigen.
So arbeiteten wir uns langsam nach oben, indem wir kleine Beamte, Sekretärinnen, Verwaltungsassistenten interviewten. Wir trafen sie ausserhalb ihrer Büros und Wohnungen, am Abend und an Wochenenden. Die Justizbehörden und das FBI befragten dieselben Leute wie wir, aber immer in ihren Büros, in Gegenwart der Verwaltungsjuristen; nie zu Hause, nie am Abend, nie fern von ihren Jobs, von Einschüchterung und Druck. Deshalb war es keine Überraschung, dass das FBI und das Justizdepartement zu den gegenteiligen Schlüssen kamen wie wir. Sie liessen zentrale Informationen ausser acht, weil sie, nach den Worten des damaligen FBI-Chefs, bei den Männern um den Präsidenten von einer “Annahme der Korrektheit” ausgingen.
Selbst unsere Kollegen in der Presse nahmen unsere Reportagen nicht ernst, bis unsere Methoden einige aussergewöhnliche Informationen zutage förderten: eine Geschichte von systematischer, illegaler politischer Bespitzelung und Sabotage, die vom Weissen Haus aus gesteuert wurden, von geheimen Fonds, abgehörten Telefonen, einem Team von “Spenglern” (Einbrechern), die für den Präsidenten arbeiteten. Und dann die Geschichte von der Vertuschung, von der Behinderung der Justiz, die bis hinauf zum Präsidenten reichte.
Es ist wichtig, sich an die Reaktion der Regierung Nixon zu erinnern. Sie machte das Verhalten der Presse zum Hauptthema von Watergate – nicht das Verhalten des Präsidenten und seiner Männer. Tag für Tag gab Nixons Weisses Haus etwas heraus, was wir mit der Zeit das “Nicht-Dementi” nannten: Pressesekretär Ron Ziegler, der republikanische Führer im Repräsentantenhaus Jerry Ford und der republikanische Führer im Senat Bob Dole warfen uns vor, wir handelten mit Gerüchten, Hörensagen, Rufmord und Andeutungen – auf den Inhalt unserer Geschichten allerdings gingen sie nie ein.
Nixons Technik, die Methoden der Presse zum Thema zu machen, verschwand nach Watergate keineswegs, sie erreichte im Gegenteil unter Ronald Reagan neue Höhen der Raffinesse und des Zynismus, und sie blüht auch heute. So sagte Reagan über die Iran-Contra-Affäre: “Was mich die Wände hochgehen lässt, ist, dass es kein Fehlschlag war, bis die Presse einen Hinweis von diesem Lumpen in Beirut bekam und alles aufzubauschen begann. Die ganze Sache war eigentlich nichts anderes als eine grosse Verantwortungslosigkeit von seiten der Presse.”
Und mit George Bush haben wir jetzt einen weiteren Präsidenten, der von Informationslecks und Geheimniskrämerei besessen ist, einen Präsidenten, der es nicht verstehen konnte, dass die Presse darüber berichtete, als seine Leute auf dem Lafayette Square gegenüber dem Weissen Haus eine Drogen-Razzia fingierten. “Auf welcher Seite steht Ihr eigentlich?” fragte er. Es war eine wahrhaft nixonianische Frage. Diese Verachtung für die Presse, die sich auf Hunderte von Beamten in öffentlichen Ämtern übertragen hat, ist wohl das dauerhafteste und wichtigste Vermächtnis der Nixon-Regierung.
Im Rückblick hatte Nixons ausserordentliche Kampagne, die Glaubwürdigkeit der Presse zu untergraben, einen beachtlichen Erfolg, trotz des Nach-Watergate-Imponiergehabes in unserem Beruf. Ein wichtiger Grund für diesen Erfolg sind unsere eigenen offensichtlichen Mängel. Es ist eine harte und einfache Tatsache, dass unsere Berichterstattung nicht gut genug war. Sie war nicht gut genug während der Nixon-Jahre, sie wurde schlechter während der Reagan-Jahre, und sie ist heute um nichts besser. Wir sind arrogant. Wir haben es unterlassen, unsere eigenen Institutionen in den Medien denselben harten Prüfungen zu unterziehen, die wir für alle anderen mächtigen Institutionen der Gesellschaft fordern. Wir sind nicht eher bereit oder willig, Irrtümer oder Fehleinschätzungen zuzugeben, als die parlamentarischen Schurken und bürokratischen Verbrecher, für deren Überwachung wir so viel Zeit aufwenden.
Das grösste Verbrechen im heutigen Informationsbusiness ist es, zu spät zu kommen oder eine grosse Story zu verpassen. So sind Geschwindigkeit und Quantität der Ersatz für Gründlichkeit und Qualität, für Genauigkeit und das Darstellen von Zusammenhängen. Der Druck der Konkurrenz, die Angst, jemand anderes sei schneller, schafft ein hektisches Klima, in dem ein Wirbelsturm von Informationen fabriziert wird und ernsthafte Fragen nicht gestellt werden dürfen. Und selbst in jenen Glücksfällen, da solche Fragen aufgeworfen werden (wie beispielsweise nach einigen der ungeheuerlichen Geschichten über die Familie Clinton), nimmt sich niemand die Zeit, der Sache wirklich auf den Grund zu gehen.
Berichterstattung ist nicht Stenographie. Es ist die beste der erhältlichen Versionen der Wahrheit. Die wirklich entscheidenden Trends im Journalismus allerdings gehen nicht in Richtung auf eine Verpflichtung zur besten und komplexesten der erhältlichen Versionen der Wahrheit, nicht in Richtung auf einen neuen Journalismus, der auf ernsthafter, durchdachter Berichterstattung beruht. Dies sind nicht die Prioritäten, welche den Leserinnen und Lesern der meisten unserer Zeitungen auffallen; es ist nicht das, was die Leute bekommen, wenn sie die Fernseh-Nachrichten einschalten.
“Also, war es wirklich der beste Sex, den Sie je hatten?” Dies fragte Diane Sawyer in einem Interview auf “Prime Time Live” Marta Maples über ihre Affäre mit Multi-Milliardär Donald Trump. “Prime Time Live” ist eine Sendung der News-Abteilung von ABC, von der laut Eigenwerbung “mehr Amerikaner ihre Informationen beziehen als von irgendeiner anderen Quelle”. Diane Sawyers Frage markierte einen neuen Tiefpunkt. Seit mehr als 15 Jahren bewegen wir uns vom wirklichen Journalismus weg in Richtung auf eine Art von schlüpfrigem Infotainment, in dem die Grenzen zwischen den grossen Fernseh-Gesellschaften und den Boulevardblättern sich verwischen. In dieser neuen Kultur des journalistischen Kitzels bringen wir den Medienkonsumentinnen und -konsumenten bei, dass das Triviale bedeutend sei, dass das Grelle und Verdrehte wichtiger sei als die wirkliche Information. Wir dienen unserem Publikum nicht, wir biedern uns an. Und wir benehmen uns herablassend, indem wir das liefern, von dem wir annehmen, das Publikum wolle es und es erhöhe unsere Einschaltquoten und Auflagen. Leider scheinen viele unsere herablassende Haltung zu bestätigen und den Ramsch tatsächlich zu mögen. Aber trotz allem ist es die Aufgabe der Journalisten, die Leute herauszufordern und sie nicht nur zu amüsieren.
Wir sind auf dem besten Wege, das zu schaffen, was den Namen Idioten-Kultur verdient. Nicht eine idiotische Sub-Kultur, wie sie in jeder Gesellschaft unter der Oberfläche brodelt und für harmlosen Spass gut ist, sondern die Kultur selbst. Zum ersten Mal werden das Sonderbare, das Stupide, das Grobe zur kulturellen Norm, ja sogar zum kulturellen Ideal.
Ich will nicht die Populärkultur angreifen. Guter Journalismus ist populär, aber populär in dem Sinne, dass das Publikum informiert und sein Wissen erweitert wird, nicht dass man auf der Suche nach dem tiefsten gemeinschaftlichen Nenner immer weiter nach unten rutscht. Wenn Populärkultur den Ausdruck von Gedanken und Gefühlen bedeutet, der von den Konsumenten keinerlei Anstrengung erfordert, dann ist der anständige populäre Journalismus am Ende. Was heute leider geschieht, ist der Untergang des wirklichen Journalismus, der von der tiefsten Form der Populärkultur – Mangel an Information, Fehlinformation, Desinformation, Verachtung für die Wahrheit und die wirkliche Lebenssituation der meisten Menschen – überrollt worden ist. Heute werden die normalen Amerikaner mit Abfall vollgestopft.
Es geht hier nicht um das Recht auf freie Meinungsäusserung. In einem freien Land haben wir auch die Freiheit, Abfall zu konsumieren. Aber dieTatsache, dass Abfall immer produziert werden wird, bedeutet nicht, dass wir das auch noch unterstützen müssen. Und die grossen Informationskonzerne dieses Landes sind jetzt in der Abfallwirtschaft tätig. Wir alle kennen Pornographie, und sie hat ein Recht zu existieren. Aber wir müssen nicht alle Pornographie-Produzenten werden; und es gibt kaum ein Medienunternehmen in den USA, das in den letzten 15 Jahren nicht mindestens eine Zehe in das soziale und politische Pendant zum Porno-Geschäft gesteckt hat.
Ja, wir haben immer eine sensationsgierige, populäre Klatsch-Boulevard-Presse gehabt; und wir haben immer Klatsch-Spalten gehabt. Aber nie zuvor hatten wir eine Situation wie heute, in der angeblich ernsthafte Leute – ich spreche von den sogenannten intellektuellen und sozialen Eliten dieses Landes – durch diese Kolumnen und Fernseh-Shows leben und sterben (und sie auch noch glauben), und in der Millionen weiterer Leute sich auf diese “Informationsquellen” verlassen.
Während der acht Jahre der Reagan-Präsidentschaft begriff die Presse nicht, dass Reagan ein wirklicher Führer war – so sehr er am Schalthebel der Macht zu schlafen schien, so seicht sein Intellekt auch war. Kein Führer seit Präsident Franklin Delano Roosevelt in den dreissiger Jahren veränderte die amerikanische Landschaft so nachhaltig, keiner sah seine Vision von Amerika und der Welt so gründlich in die Tat umgesetzt. Aber während der Reagan-Jahre verliessen wir von der Presse kaum einmal Washington, um im Lande draussen die Wechselwirkung zwischen Politik und Gesetzgebung und Reagans Richter-Ernennungen zu studieren, um die Wirkung der Regierungserlasse auf die Bevölkerung zu untersuchen – auf die Kinder und die Erwachsenen, auf die verschiedenen Institutionen, in der Erziehung, an den Arbeitsplätzen, in den Gerichten, unter den Schwarzen, in den Lohntüten und Einkaufskörben. Wir waren so damit beschäftigt, uns über Reagans Rhetorik vom “Reich des Bösen” lustig zu machen, dass wir die Verbindungen nicht sahen, die zwischen Reagans Politik und Gorbatschows Willen, das Übel des Kommunismus zu lockern, bestanden.
Jetzt liegt die Bilanz offen. Wir haben in Tat und Wahrheit die meisten grossen Geschichten unserer Generation verschlafen, vom Iran-Contra-Skandal bis zum Debakel der Spar- und Leihkassen.
Die Fehler der Presse trugen wesentlich bei zum Entstehen der “Talk-Show-Nation”, in der die öffentliche Diskussion auf Geschwätz, Gefasel und Imponiergehabe reduziert wird. Der grösste Teil unserer Presse wird bei ihrer Informationsauswahl immer stärker von der Unterwelt beeinflusst. Am Tag, als Nelson Mandela nach Soweto zurückkehrte und die Alliierten des Zweiten Wektkriegs der deutschen Vereinigung zustimmten, waren die Frontseiten vieler “verantwortungsbewusster” Blätter in den USA der Scheidung von Donald und Ivana Trump gewidmet.
Und eben sah es so aus, als ob uns die Apotheose dieser Talk-Show-Kultur kurz bevorstehe. Ich spreche von Ross Perot, einem Kandidaten, der vom Fernsehen geschaffen wurde. Lanciert wurde er in der “Larry King Live”-Show von CNN, und seine Lust, sich aufzuplustern und zu posieren, passte viel weniger in eine liberale Demokratie als zu den Schwergewichtsringern der TV-Schwatz-Shows. Er war ein Kandidat, dessen einziger substantieller Vorschlag darin bestand, die repräsentative Demokratie durch eine Live-Fernseh-Talk-Show für die ganze Nation zu ersetzen. Und dieser Kandidat, der allen Medien-Überprüfungen durch das schamlose Eingeständnis seiner Ignoranz ausgewichen war, führte vorübergehend in mehreren Staaten in Meinungsumfragen deutlich vor den Kandidaten der beiden grossen Parteien.
Heute ist der Zustand der USA die aufregendste News-Story der Welt. Unser politisches System steckt in einer tiefen Krise, wir werden Zeugen des Zusammenbruchs unseres Zusammengehörigkeitsgefühls und der Gemeinschaft, welche die Entstehung und den Fortschritt der amerikanischen Demokratie in der Vergangenheit ermöglicht haben. Die Entstehung der Talk-Show-Nation ist ein Teil dieses Zusammenbruchs.
Viele Selbstverständlichkeiten in den USA – in bezug auf Rasse, Wirtschaft und das Schicksal unserer Städte – müssen in Frage gestellt werden, und wir könnten mit den Medien beginnen. Denn abgesehen von der Rassenfrage ist die Geschichte der zeitgenössischen amerikanischen Medien die grosse ungeschriebene Story im heutigen Amerika. Wir müssen zum Thema Presse dieselben grundlegenden Fragen stellen wie zu den anderen mächtigen Institutionen dieser Gesellschaft: wem sie dienen, was ihre Grundsätze sind, wie sehr ihre Eigeninteressen die öffentlichen Interessen und die Interessen der Wahrheit behindern.
In Tat und Wahrheit sind die Medien wohl die mächtigste unserer Institutionen, und sie verschwenden ihre Macht und vergessen ihre Verpflichtungen. Sie – oder vielmehr wir – haben die Verantwortung aufgegeben, und die Folgen dieser Aufgabe sind das Spektakel und der Triumph der Idioten-Kultur.
* Aus dem Amerikanischen von Martin Hauzenberger.
- Tags: Ausgabe 4 | 1992, Ausland
- Kommentare deaktiviert für Journalismus und Idioten-Kultur