“Widerstand leisten!”
Schwere Zeiten für die französischen Zeitungen: Wegen Auflagenschwund und Werbekrise drohen sie unter die Fuchtel branchenfremder Konzerne zu geraten.
Kampfjetbauer Serge Dassault übernimmt die Socpresse, Rüstungsfabrikant Arnaud Lagardère verhandelt mit “Le Monde” und Bankierssohn Edouard de Rothschild steigt bei “Libération” ein: Die Konzentration der wichtigsten nationalen Pressetitel in den Händen des Gross- und Rüstungskapitals rührt an die Grundlagen der französischen Demokratie, wie sie nach der Befreiung vom Faschismus entstanden sind. Dies sagt Lucie Aubrac, 92-jährig und eine Galionsfigur der französischen Résistance. Aubrac tourt zurzeit durch die französische Provinz und erklärt Jugendlichen und Älteren, was die Résistance war, der Widerstand gegen die faschistische Besetzung Frankreichs. Und weshalb es heute ebenso wichtig sei, sich gegen die Pressekonzentration zu wehren.
Der erste Schritt zur Desinformation
Vor kurzem hat Bruno Gollnisch, führendes Mitglied des rechtsextremistischen “Front National”, wieder einmal eine der bekannten FN-Provokationen geäussert: Er forderte eine “offene Debatte” über die Konzentrationslager. Im Klartext: Gollnisch flirtet mit den revisionistischen Lügen, laut denen der Holocaust nicht stattgefunden habe. Und die regionale Presse im Südosten Frankreichs, seit kurzem im Besitz des Rüstungsmagnaten Dassault, bringt das Zitat im O-Ton, ohne Ergänzung, Kommentar oder Gegenüberstellung. Lucie Aubrac erstaunt das nicht: “Die heutigen Medien begraben die Wahrheit unter einer Flut von Neuigkeiten. Sie haben keinen Orientierungssinn mehr. Das ist der erste Schritt zur Desinformation.”
Und damit hat die Réstistance-Kämpferin Aubrac damals mehr als genug Erfahrungen gemacht: “Wir lebten in einer Zeit der völligen Desinformation.” Als eine der ersten Massnahmen habe die Vichy-Regierung das Papier kontingentiert. Dann habe der Widerstand unter grossen Opfern begonnen, kleine Zeitungen herauszugeben, und nach der Befreiung habe die freie Presse eine wahre Blütezeit erlebt. Heute betont Aubrac: Nicht das Sturmgewehr, nicht die Granaten in der Tasche seien ihre wichtigsten Waffen gewesen. Sondern die Information, die klandestinen Zeitungen, die die Résistance herausgab. Damals sei allen klar gewesen: “Ohne Information keine Reflexion, ohne Reflexion keine Solidarität, ohne Solidarität kein Engagement.” Diese Voraussetzungen jeder solidarischen Bürgeraktion sieht Lucie Aubrac heute bedroht. “Es ist das Ende der Demokratie, wenn das Grosskapital die Presse übernimmt.”
Die Presse-Magnaten leben vom Staat
In Frankreich geschieht die Pressekonzentration in einer besonders problematischen Konstellation: Die grossen industriellen Gruppen, die auch im Medienbereich mitmischen, sind gleichzeitig mit dem Staat verbandelt. Rüstungs- und Militärflugzeugproduzent Serge Dassault beispielsweise, der seit der Übernahme der Socpresse im Sommer 2004 praktisch die ganze Regionalpresse und dazu noch führende nationale Titel wie “Le Figaro” oder “L’Express” kontrolliert, liefert Kampfjets an den französischen Staat und ist für seine Rüstungsexporte von Bewilligungen der Regierung abhängig. Und seit September 2004 ist er auch Mitglied im Französischen Senat. Nach französischem Wahlrecht ist die gleichzeitige Ausübung eines parlamentarischen Mandates und eine Tätigkeit als Firmenchef nicht zulässig, wenn das Unternehmen vor allem für den Staat arbeitet. Ende Dezember gab der Verfassungsrat auf eine Klage hin jedoch bekannt, dass er das Mandat und die Unternehmertätigkeit von Serge Dassault als miteinander vereinbar beurteilt.
Redaktionelle Unabhängigkeit gefährdet
Serge Dassault hat in seinem kurzen Leben als Pressemagnat bereits viele seiner erfahrensten JournalistInnen vergrault: Bereits ein halbes Jahr nach Übernahme der Socpresse warfen im Dezember 270 RedaktorInnen, zehn Prozent der journalistischen Angestellten seiner Titel, aus Gewissensgründen das Handtuch. Sie beriefen sich dabei auf die gesamtarbeitsvertraglich verankerte “clause de cession” (in der Westschweiz “Gewissensklausel”). Diese gibt den JournalistInnen Anrecht auf angemessene Entschädigung, wenn eine Änderung der redaktionellen Linie negative Auswirkungen auf ihre berufliche Ehre und Reputation hat.
Die Kündigungen kommen nach mehrmonatigen Auseinandersetzungen um die redaktionelle Unabhängigkeit der Socpresse-Titel. In einem Interview auf “France Inter” vom 10. Dezember 2004 erklärte Dassault etwa, wie er die Aufgabe seiner Zeitungen sieht: “Eine Zeitung erlaubt es, gewisse gesunde Ideen auszudrücken.” Dassaults “gesunde Ideen”? Er meint: “Linke Ideen sind nicht gesunde Ideen.” Gesund sei, wenn die JournalistInnen “der Wirtschaft zu informieren helfen”. Im Fall eines Interviews über den betrügerischen Handel mit Mirage-Flugzeugen nach Taiwan oder eines Artikels über den Verkauf von Kampfjets nach Algerien ging die Informationshilfe des neuen Besitzers bis zur offenen Zensur. – Jetzt stellen die verbleibenden JournalistInnen fest, dass nur eine kleine Anzahl der Abgegangenen ersetzt werden soll; Ende Januar wehrten sie sich mit einem Aktionstag.
Weltweit der grösste Magazin-Verleger
Auch der Lagardère-Konzern ist im Rüstungssektor gross geworden (EADS stellt Militärtransport-Flugzeuge und Verteidigungssysteme her) und daher auf Staatsaufträge angewiesen. Daneben hat er unter dem Namen Hachette-Filipacchi Médias ein Medienunternehmen aufgebaut, das mit seinen 245 Titeln in 36 Ländern weltweit der grösste Magazin-Verleger ist. Lagardère besitzt fünf Privatfernsehsender und hat enge Beziehungen zur Gruppe Vivendi (Pay-TV und Satellitenfernsehen); innerhalb der Gruppe befasst sich neuerdings der bisherige Kopräsident von EADS mit dem Mediengeschäft. Und nun will Lagardère bei “Le Monde” einsteigen – ausgerechnet bei dieser nach der Befreiung vom Faschismus gegründeten Zeitung, die seit sechzig Jahren als moralische Institution der Republik und journalistische Referenz des Journalismus gilt.
“Le Monde” erlebte auch 2004 einen drastischen Auflagenrückgang (-7,5 Prozent). Hoch verschuldet, mit einem Kapitalbedarf von 50 bis 55 Millionen Euro, will die Geschäftsleitung die Zeitung zu 30 bis 35 Prozent für fremdes Kapital öffnen. Lagardère, der in der Gruppe “Le Monde AG” bereits als Minderheitsaktionär präsent ist, könnte mit 20 bis 25 Millionen, respektive etwa 15 Prozent, bei der Zeitung einsteigen. Die Präsidentin der Redaktorengemeinschaft (SRM), Marie-Béatrice Baudet, konnte Ende Januar noch nicht sagen, ob die Redaktion ihr Einverständnis zum Einstieg Lagardères geben wird. Die Gewerkschaften haben bereits mit einer Entlassungswelle alle Hände voll zu tun: Rund 90 Personen sollten aufgrund eines Sparplans zum freiwilligen Abgang ermuntert werden, doch laut der Gewerkschaft CGT drängeln sich nicht genügend Freiwillige vor.
Vertrauenskrise bei “Le Monde”
Seit mehreren Jahren verstummt die interne Kritik an der “Le Monde”-Direktion nicht mehr. So wurden schon der geplante Börsengang und der Aufbau einer Gruppe durch den Kauf von Regionalzeitungen kritisiert. Heute bringen die Sparpläne Unruhe, besonders seit bekannt wurde, dass “Le Monde” noch nie in seiner Geschichte eine so grosse Anzahl hoher Kader mit entsprechenden Kaderlöhnen beschäftigt habe. Eine interne Umfrage, publiziert von der Satirezeitung “Charlie Hebdo”, zeigte einen dramatischen Vertrauensverlust in die redaktionelle Linie: Ein Drittel der Umfrage-TeilnehmerInnen erachtet die sinkende Qualität des Inhalts als Ursache für den Auflagenrückgang. Für einen Drittel ist die Krise Folge mehrerer kritischer Bücher, die letztes Jahr veröffentlicht wurden. Für einen weiteren Drittel ist die “Le Monde” bisher fremde Tendenz zur Inszenierung der Information schuld.
Laut gewerkschaftlich organisierten Insidern geht es bei den Auseinandersetzungen um die redaktionelle Linie, das heisst um die Frage, ob die Zeitung Recherchier- und Enthüllungsjournalismus oder Analysen- und Reflexionsjournalismus betreiben soll. Der Rücktritt von Redaktionsdirektor Edwy Plenel, der auf Knüller gesetzt habe, genüge denn auch nicht, um die Vertrauenskrise zu beheben. Die Gewerkschaften würden jedenfalls äusserst wachsam sein, was die allfällige Höhe der Kapitalbeteiligung Lagardères und seine Einflussmöglichkeiten beträfen. Auch wenn Lagardère den Ruf hat, seine Redaktionen in Ruhe zu lassen, ist “Le Monde” nicht irgendeine Zeitung. Wie sagte Hubert Beuve-Méry, der Gründer von “Le Monde”, vor sechzig Jahren? “Wir dürfen nicht zulassen, dass die Mittel, die wir zum Leben brauchen, den Sinn unseres Lebens kompromittieren.”
Ein Rothschild bei “Libération”
Und nun sind auch noch die Unabhängigkeit und das kollektive Redaktionsexperiment von “Libération” (Auflagenrückgang 2004: -6,2 Prozent) bedroht. Im 1973 vom Philosophen Jean-Paul Sartre mitbegründeten Blatt steigt heute, mit dem Segen der MitarbeiterInnen, Bankierssohn Edouard de Rothschild mit 20 Millionen Euro oder 37 Prozent des Kapitals ein. Der Aktienanteil der Lohnabhängigen fällt dadurch von 36 auf 19 Prozent. Immerhin behalten die MitarbeiterInnen einen Stimmrechtsanteil von 33,34 Prozent und damit eine Sperrminorität. Rothschild musste sich auch verpflichten, keinen Einfluss auf die verlegerische Linie zu nehmen. Allerdings hat er ausgehandelt, dass seine Beteiligung bei ungenügender Rendite bis 49 Prozent ansteigen kann. Rothschilds Einstieg war umstritten, auch wenn Mitbegründer Serge July ihn den MitarbeiterInnen mit dem Argument schmackhaft machen wollte, die Zeitung werde nicht von einer grossen Mediengruppe übernommen. Die Gewerkschaften CGT und SUD stimmten trotzdem Nein: Die Kapitalerhöhung werde weder dazu dienen, die Schulden zu verringern, noch eine Lohnerhöhung zu garantieren. Sie solle den Verkaufspreis der Zeitung senken; es gebe aber keine Marktstudien, die beweisen würden, dass ein niedrigerer Verkaufspreis den Verkauf ankurbeln könnte. “Mittelfristig werden damit die Schlüssel von ‚Libération‘ einem Mann in die Hand gelegt, der keine Presseerfahrung hat”, warnten die Gewerkschaften. Rothschild werde zwar von zwei Profis beraten – doch ausgerechnet von Ehemaligen des multinationalen Konzerns Vivendi Universal. Damit bestehe die Gefahr, dass ein weiterer Teil der Presse ins “Reich der Undurchsichtigkeit und der finanziellen Konzentration” falle.
Das Ende einer Epoche
Was für die Schweizer Zeitung “Finanz und Wirtschaft” nur ein lohnendes Schnäppchen ist – “Medienunternehmen sind derzeit günstig zu haben und deshalb kaufenswert” (“Finanz und Wirtschaft” 19. Januar 2005) –, ist für Lucie Aubrac das Ende einer Epoche. “Nach der Befreiung vom Faschismus haben wir versucht, die Grundlagen für eine dauerhafte Demokratie zu legen. Dazu gehörte die Gleichheit zwischen Männern und Frauen, die öffentliche Schule, der Service public – und die Pressefreiheit.” Wenn grosse Industriekonzerne die Presse beherrschten, verlöre sie ihre Glaubwürdigkeit und damit unweigerlich die LeserInnen, meint Aubrac.
Tatsächlich nennt das Monatsmagazin “Le Monde diplomatique” in der Januar-Ausgabe für die Krise im französischen Print folgende Gründe: 1. Die Offensive der Gratiszeitungen (“20 Minutes” hat zwei Millionen LeserInnen, “Métro” 1,6 Millionen), 2. die Konkurrenz durch Internet, 3. der Verlust der Glaubwürdigkeit als Folge der Verbandelung zwischen Medienmischkonzernen und Staatsmacht.
“Ich hoffe, Sie vergeben mir alter Frau, wenn ich Ihnen einen Rat mitgebe”, lächelt Lucie Aubrac. “Schreiben Sie in Ihrer Zeitung: Das Verb ‚résister‘ wird im Präsens konjugiert.”
Lucie Aubrac
hb./ Geboren 1912, engagierte sich Lucie Aubrac als junge Frau in der französischen Résistance. Im Mai 1943 befreite ihre Gruppe in einem spektakulären Coup 14 Menschen. Darunter Lucie Aubracs Mann Raymond, der zusammen mit Jean Moulin und sieben anderen hohen Résistance-Verantwortlichen in die Hände des Gestapo-Folterers Klaus Barbie geraten war; Lucie und Raymond Aubrac konnten anschliessend nach London fliehen. Sie war Mitglied der von General de Gaulle eingerichteten “Assemblée consultative d’Alger”. In diesem Rat der Résistance im Ausland wurden die Grundlagen der neuen Republik debattiert. Im befreiten Frankreich bekam Lucie Aubrac Anrecht auf einige Rollen des nach dem Krieg raren Druckpapiers; sie gründete die Zeitschrift “Privilège femmes”. Später engagierte sie sich in der Friedensbewegung, gegen die atomare Aufrüstung und für die antikolonialen Befreiungskämpfe in Indochina und Algerien. Als Mitglied einer Historikerkommission untersuchte sie die Entwicklung des politischen Lebens in Europa nach 1933; ihren Lebensunterhalt verdiente sie als Geschichtsprofessorin. 1984 publizierte sie ihre Erinnerungen: “Ils partiront dans l’ivresse” (Seuil). Das Buch wurde von Filmautor Claude Berri verfilmt.
Information als Droge – die “Mal Info”
hb./ Bauerngewerkschafter José Bové prägte das Wort “Malbouffe” für den Konsum denaturierter, gesundheitsschädigender Nahrungsmittel. Unterdessen hat das französische “Observatoire du débat public” (ODP) – ein unabhängiges soziologisches Beobachtergremium, gegründet vom “Institut Médiascopie” – eine Studie zur “Mal Info” veröffentlicht. Das ODP befragte während einem halben Jahr rund 50 Personen zu ihrem Medienkonsum.
Das Resultat: Gemäss der ODP-Studie sind die Franzosen und Französinnen zu süchtigen MedienzapperInnen geworden. Statt wie bisher ihrem Leibblatt treu zu sein, versorgen sie sich während des ganzen Tages mit News aus verschiedensten Medien – vom Radio zum Internet, von den Zeitungen zum Fernsehen. Ein schneller und oberflächlicher Überkonsum, der einer “Fastfood-Logik” entspreche und Ausmasse annehmen könne, wo man von “Malbouffe” sprechen müsse.
Was sind die Gründe für das neue Konsumverhalten? Es sei Ausdruck einer tief sitzenden Unsicherheit. Man konsultiere die Medien, weil man sich bedroht fühle, sei es von einem terroristischen Anschlag, der Vogelgrippe oder einem Kurssturz an der Börse. Die Information, die man sich selbst aktiv beschaffe, bleibe oft sekundär im Vergleich zur Information, von der man im Lauf des Tages überflutet werde. Der Medienkonsument versuche, die “Roh-Information” der rund um die Uhr sendenden Kanäle zu verdauen, weil er sich von Fakten mehr Aufklärung verspreche als von Kommentaren und Analysen. Die Ereignisse blieben auf diese Weise unerklärt und zusammenhangslos, was das Gefühl von Unsicherheit und damit die Sucht nach “Mal Info” steigere.
Angesichts der Flut von schlecht verdaulichen Nachrichten gebe es auch die Reaktion, die Neuigkeiten nur noch in einzelnen Teilbereichen zu verfolgen oder aber eine “Info-Diät” einzuschalten. Diese KonsumentInnen seien an vertieften Analysen und Erklärungen interessiert.
- Tags: Ausgabe 1 | 2005, Ausland
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