Aktuell – 23.09.2019

Titus Plattner: «Mir gefiel es, herumzuwühlen»

Titus Plattner bewegt sich bei Tamedia zwischen den Bereichen Technologie und Information. Er versteht sich als Investigativ-Journalist mit einer Spezialfunktion.

Von Jean-Luc Wenger

Titus Plattner verdankt seinen kaiserlichen Vornamen seinen dreisprachigen Eltern (Deutsch, Französisch, Italienisch). Ein kurzer, sehr gelungener Name, der in allen Weltsprachen leicht auszusprechen ist. Er wächst in Brig an der Sprachengrenze auf, studiert in Lausanne und Freiburg und bewegt sich heute mehrmals pro Woche auf der Achse Zürich–Bern–Lausanne.

Plattner steigt als freier Journalist bei der Walliser Tageszeitung Le Nouvelliste in den Journalismus ein. Sein allererstes Thema: die Überquerung der Alpen mit Lamas. Bald darauf stösst Plattner mitten im Kurort Leukerbad auf einen Skandal. Der blutjunge Journalist besitzt Informationen aus erster Hand und deckt auf, wie der Gemeindepräsident sein Dorf in den Konkurs führen will. «Mir gefiel es, nachzuhaken und herumzuwühlen», schmunzelt der Journalist heute.

Mitglied im investigativen Recherchedesk. Parallel zu seinem Studium in Politikwissenschaft an der Universität Lausanne macht er Stellvertretungen beim inzwischen eingegangenen Blatt Nouveau Quotidien. Dort übersetzt er Leitartikel aus aller Welt. Bald absolviert er ein Sommerpraktikum bei der RTS-Sendung Forum und beginnt für L’Hebdo zu schreiben. Ohne je einmal ein klassisches Volontariat gemacht zu haben, erlangt er schliesslich dank der Tätigkeit bei Le Temps den Status als BR-Journalist.

Nach einer bemerkenswerten Rückkehr zu L’Hebdo wird er von Le Matin Dimanche abgeworben und zum Leiter der Rubrik Schweizer Politik ernannt. Im April 2012 ist Titus Plattner dann im Team, das bei Tamedia einen sprachenübergreifenden investigativen Recherchedesk aufbaut. Dieser hat seinen Sitz in Bern und beschäftigt acht erfahrene Profis und eine Praktikantin. «Drei Viertel unseres Teams haben schon einen Preis für investigativen Journalismus erhalten», sagt der Wahlwaadtländer.

Für ihn ist die Gründung dieses Teams der Beweis dafür, dass der Verleger gewillt ist, durch investigative Recherchen öffentliche Interessen zu verteidigen. Und die Statistiken widerlegen, dass solche Storys nur für Gesprächsstoff sorgen. «Qualitativ gute Artikel bringen uns Abonnenten», bemerkt Titus Plattner.

Zwischen Technologie und Information. Der Recherchedesk hat schon einige exklusive Geschichten geschrieben, die für Aufsehen auf den Titelseiten sorgten. Zum Beispiel der Bieler Radiumfund. Die Story enthüllte, dass ehemalige Uhrmacherwerkstätte eine zu hohe Radioaktivitäts-Quote aufwiesen. Erst wegen dieser Recherche entschied die Stadt Biel, die betroffenen Standorte zu reinigen, und erst deshalb ergriff der Kanton Bern entsprechende Massnahmen und der Bund lancierte eine Untersuchung.

«Wir müssen bescheiden sein.»

An dieser Stelle seien auch die «Panama Papers» oder die «Implant Files» erwähnt. «Das sind sehr wichtige Themen. Wir müssen unserer Leserschaft den Mehrwert solcher Exklusivberichte besser verkaufen und kommunizieren», ist Titus Plattner überzeugt. «Wir müssen nicht nur transparenter werden, sondern auch bescheiden und offen gegenüber Kritik sein, uns hinterfragen, ohne uns kleinzumachen. Tamedia ist eines der wenigen Medienhäuser, die finanziell auf stabilen Beinen stehen und sich solche Geschichten leisten könnten.» Für ihn ist der Recherchedesk ein Labor. «Wir können uns viel Zeit für die Recherche nehmen und so Themen behandeln, für die andere nicht die nötigen Mittel haben.»

Titus Plattner übt zurzeit zwei Funktionen bei Tamedia aus: Investigativ-Journalist (30 Prozent) und Senior Innovation Project Manager. «Ich befinde mich an der Grenze zwischen Technologie und Information», freut er sich. Laut ihm ist guter Journalismus nur möglich, wenn er von der besten Technologie unterstützt wird. «In diesem Bereich hat die Schweiz Nachholbedarf. Was die Technologie bei der Informationsproduktion angeht, nimmt Tamedia eine Pionierrolle ein.»

Weniger, aber immer besser qualifiziert. Titus Plattner wohnt in Lausanne, ist aber oft am Hauptsitz von Tamedia in Zürich und am Recherchedesk in Bern anzutreffen. Dank Skype und anderen Apps spart er, der kein Fan von Sitzungen ist, viel Reisezeit. Auf die Abhängigkeit von Zürich angesprochen, meint er, dass es nicht einfach darum gehe, einen guten Artikel des Tages-Anzeigers zu übernehmen. «Ein Artikel muss angepasst und neu geschrieben werden. Da haben wir noch Entwicklungspotenzial.»

Insofern begrüsst Plattner die Weiterbildungsmöglichkeiten bei Tamedia. «Natürlich gibt es immer weniger Journalistinnen, doch diese sind immer besser qualifiziert.» Tamedia schickt jedes Jahr fünf oder sechs Journalisten und zwei oder drei Führungskräfte zur Ausbildung an die Columbia University in New York, und dann teilen sie ihr Fachwissen mit der Gruppe. «Das hilft und bringt uns weiter», meint Titus Plattner, der an der Stanford-Universität in den USA Kurse besuchen durfte.

Andere Denkweise. Mit seiner Frau und seinen beiden Kindern ist er im Sommer 2017 nach Stanford gezogen. «Ein wahres Familienabenteuer», erinnert er sich. «Wir waren sechs Ausländer und zehn Amerikanerinnen, die von der Universität ausgewählt wurden.» Im Herzen des Silicon Valley – eine der teuersten Gegenden der Welt – arbeitet ein Drittel der Bewohnerinnen für die Internetgiganten GAFAM (Google, Apple, Facebook, Amazon und Microsoft) und ein weiteres Drittel für deren Partnerbetriebe.

«Um die Kurse zu besuchen, reiste ich je zwei Stunden hin und zurück. Die langen Arbeitswege schockierten mich», meint Titus Plattner. «Die dort zur Verfügung stehenden Mittel sind enorm und die Mentalität ist nicht mit jener in Europa zu vergleichen. In der Schweiz werden zwei von drei Projekten realisiert. Dort werden von zehn lancierten Projekten am Ende vier weiterverfolgt.» Und genau diese Denkweise will Titus Plattner der ­Tamedia-Gruppe einflössen.

«Qualitativ gute Artikel bringen uns Abonnenten.»

An der Uni werden vor allem Ideen kreiert – ein Ansatz, der aktuell sehr im Trend ist. «Gemeinsam mit den besten Studenten zu arbeiten, ist anregend. Du lässt deinen Gedanken freien Lauf, ohne Kundenwünsche miteinzubeziehen. Und am Ende geht es darum, deine Ideen zu verkaufen, selbst wenn das Zeit in Anspruch nimmt.» Die Financial Times beschäftigt beispielsweise vier Personen in diesem Bereich. Titus Plattner ist mit ihnen ebenso wie mit den Leuten der Australian Broadcasting Corporation (ABC) in Kontakt. «Wir tauschen uns aus und teilen unsere Ideen. Tamedia hat sich diesbezüglich verändert. Es ist gut möglich, dass wir ein Konzept entwickeln und es dann von jemand anderem umgesetzt wird. Und umgekehrt», offenbart der Projektchef.

Nach seiner Rückkehr hat er für Tamedia das Recherche-Werkzeug Tadam (Tamedia Data Mining) entwickelt. «Dabei habe ich viel gelernt. Da Tadam anfangs nicht funktionierte, mussten wir es neu ausrichten. Es erlaubt uns beispielsweise, Bilder so zu archivieren, dass sie später intuitiv wieder gefunden werden können.» Laut Plattner ist das Ziel nicht, die Bildauswahl durch den Menschen zu ersetzen, sondern die repetitive und mühsame Recherche nach passenden Bildern zu erleichtern. Plattner: «Auf diese Weise sparen wir Zeit und erhöhen gleichzeitig die Qualität.»

Auch die Einführung von Tobi, dem Textroboter aus dem Hause Tamedia, ist das Verdienst von Titus Plattner. Das Tool bietet seit gut einem Jahr jeweils an Wahlsonntagen auf den Nutzer zugeschnittene Abstimmungsresultate. «Es war ein langer Prozess, doch die ersten Rückmeldungen der Leserschaft sind positiv.» Die grosse Herausforderung für die Lokal- und Regionalpresse ist für ihn vor allem technischer Natur. «Die Leute sind bereit, für gute Informationen zu bezahlen, allerdings nicht für mehrere Abonnemente.» Plattner möchte die Kräfte bündeln und fragt sich, warum die «kleinen» und «grossen» Medienhäuser nicht bereit sind, zusammenzuarbeiten.

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