Aktuell – 17.03.2022

«Personen werden oft kritisiert, aber kaum je das System»

Marlis Prinzing und Roger Blum haben das «Handbuch Politischer Journalismus» herausgegeben. EDITO wollte von ihnen wissen, wie es um den Schweizer Politjournalismus steht.

Interview von Bettina Büsser

EDITO: Sie haben das «Handbuch Politischer Journalismus» herausgegeben. Weshalb?

Marlis Prinzing: Weil es schlicht und ergreifend bislang kein solches Handbuch gab, weder im deutschen Sprachraum noch international. Dabei ist politischer Journalismus ein zentrales Berichterstattungsfeld.

Roger Blum: Es gibt Handbücher zum Reisejournalismus, zum Medienjournalismus, zu allen möglichen Journalismus-Spielarten, aber nicht zum politischen Journalismus, der doch die älteste Form des Journalismus überhaupt ist.

Prinzing: Das Thema beschäftigt uns beide, da wir beide in der Kommunikationswissenschaft zum politischen Journalismus geforscht und gelehrt haben, selber politische Erfahrung mitbringen und auch beide im politischen Journalismus gearbeitet haben.

Was ist politischer Journalismus? Im Lokal- und Regionaljournalismus etwa arbeitet man ja viel im politischen Bereich, wird aber sicher nicht als «Politjournalistin» bezeichnet.

Blum: Politischer Journalismus ist es immer dann, wenn der Gegenstand die Politik ist, also politische Institutionen, politische Akteure, politische Themen. Eine Journalistin, die in Bern aus dem Bundeshaus berichtet, betreibt praktisch nur politischen Journalismus, während ein Lokaljournalist zwischen ­politischem Journalismus, Wirtschaftsjournalismus, Unterhaltungsjournalismus und so weiter hin und her wechselt.

Prinzing: Der politische Journalismus hat die Leistung zu erbringen, die ich brauche, um als mündige Bürgerin, als mündiger Bürger wirklich informiert über politische Themen entscheiden zu können. Er muss viel erklären. Denn die Bürgerinnen und Bürger haben oft nicht besonders viel Basiswissen über die Funktionsprinzipien demokratischer Institutionen und Systeme.

Wenn man das Handbuch ganz kurz zusammenfassen müsste: Wie würdet ihr diese 900 Seiten ganz kompakt definieren?

Prinzing: Wir bauen damit eine Brücke zwischen der aktuellen Forschung und der Praxis. Es verschafft zum Beispiel auch einen Einblick in das Agieren politischer Journalisten und Journalistinnen in Medienhauptstädten wie Berlin, Brüssel, Paris oder Washington und thematisiert den Umgang von Investigativjournalisten mit Informanten.

«Was vor allem fehlt, ist die Berichterstattung über Lokalpolitik.»

Roger Blum

Blum: Es ist integrativ in jeder Beziehung, es enthält Beiträge aus der Wissenschaft und aus der Praxis, aus dem In- und Ausland, mit Schwerpunkt Deutschland, Österreich und Schweiz. Die Zugänge, Kompetenzen und Erfahrungen der Autorinnen und Autoren sind vielfältig.

Welches sind die Zielpublika?

Prinzing: Natürlich die Medienschaffenden und Medienwissenschaftler, aber auch Politikerinnen und Politiker. Denn viele von ihnen wissen nicht, was eigentlich die Aufgaben des politischen Journalismus sind. Sie erwarten, dass berichtet wird, was ihnen gefällt. Im Handbuch kommt aber klar zum Ausdruck, dass ein funktionierender Medienbereich im Interesse der Politik sein müsste. Denn Medienvertrauen und Politikvertrauen sind quasi aneinandergekoppelt: Wo das Mediensystem funktioniert und die Menschen hohes Vertrauen in Medien ­haben, sind parallel meistens auch ihr Vertrauen in politische Institutionen und ihr Interesse an Politik hoch.

Blum: Ausserdem gehören auch die PR-Leute zu den Zielpublika, ebenso die Verwaltung, die Staatskanzleien, denn sie haben es ja sehr oft mit politischen Journalistinnen und Journalisten zu tun.

Im Handbuch finden sich auch Berichte zum politischen Journalismus in 19 verschiedenen Ländern. Wie steht der Schweizer Politjournalismus im internationalen Vergleich da?

Blum: Er ist ziemlich lebhaft, denn die direkte Demokratie in der Schweiz zwingt dazu. In wenigen anderen Ländern gibt es so viele Abstimmungen und Wahlen, über die berichtet werden muss. Es ist eine Stärke des politischen Journalismus in der Schweiz, dass er mehr als in vielen anderen Ländern über Politikinhalte berichtet, etwa über AHV-Reformen oder neue Kampfflugzeuge, also über den sogenannten «Policy»-Bereich. Dieser kommt in anderen Ländern oft zu kurz, weil dort die ­«Politics», also die Kämpfe, die Verfahren, die Intrigen im Vordergrund stehen. Eine Schwäche des Schweizer Politjournalismus sehe ich darin, dass oft Personen kritisiert werden, aber kaum je das System. Geht es zum Beispiel um eine Vergrösserung des Bundesrats, kommt von den Medien wenig Eigen­ständiges. Sie geben wieder, was Politiker dazu sagen, aber sie analysieren solche Fragen ­wenig und scheuen sich, das System in Frage zu stellen.

Prinzing: Es gibt einen markanten Befund aus einer aktuellen Berufsfeldstudie, in welcher Deutschland, Österreich und die Schweiz verglichen wurden: Man stellte fest, dass Journalistinnen und Journalisten selber viele Handlungen ihrer Regierung kritisch sehen, aber gleichzeitig im Beruf ihre Aufgabe in erster Linie darin sehen, zu informieren und nicht zu kritisieren. Das lässt aufhorchen, denn es ist eine Kernaufgabe des Journalismus, fundierte Kritik zu äussern und Kontrolle auszuüben.

Man hört aber oft den Vorwurf, Journalistinnen und Journalisten würden ihre eigene Ideologie einbringen, anstatt einfach zu berichten. Wenn sie vorschlagen, den Bundesrat zu vergrössern: ­Bewegen sie sich dann nicht etwas ausserhalb der Rolle, die viele Leute von ihnen erwarten?

Blum: Natürlich haben Journalistinnen und Journalisten politische Positionen. Aber das ist eine andere Sache. Es gibt Befunde im politischen Journalismus, die die Folge von tiefgreifenden Analysen sind. Politjournalistinnen und -journalisten sollten ja in der Lage sein, durch ihre Kenntnisse und Beobachtungen das politische System und den politischen Betrieb zu analysieren und dann Schlüsse zu ziehen.

Prinzing: Ausserdem – und das ist vielen sowohl in der Politik als auch im Publikum nicht so bewusst – ist ein Kommentar eine veritable Darstellungsform im Journalismus. Ein guter, professioneller Kommentar bietet Meinung und Argumentation. So ­erhalte ich als Serviceleistung ein Argumentarium, das sowohl Pro als auch Kontra enthält. Die Schlussfolgerung, also die ­Meinung, muss ich ja nicht teilen.

«Sorgen macht mir besonders die zunehmende Unsicherheit darüber, was Ausgewogenheit bedeutet.»

Marlis Prinzing

Will denn das Publikum überhaupt noch Kommentare?

Blum: Ich glaube, dass das Publikum sie gerne liest. Man muss aber klar unterscheiden zwischen Kommentaren und gefärbter Berichterstattung. Berichtet jemand über eine Nationalratssitzung und erwähnt nur die Redner, die seiner politischen Auffassung nahestehen, dann hat er seine journalistische Aufgabe nicht erfüllt. Er hat aber seine Rolle richtig interpretiert, wenn er redlich berichtet, auch die Voten derjenigen erwähnt, denen er eigentlich kritisch gegenübersteht, und dann einen Kommentar dazustellt.

Aber Journalistinnen und Journalisten werden auch kritisiert, wenn sie ihre Meinung äussern. Dann werden oft Studien zitiert, die beweisen, dass sie politisch links sind, und das wird ihnen vorgeworfen.

Blum: Die Studien, die zeigen, dass Journalistinnen und Journalisten eine Tendenz nach links haben, sind zutreffend. Das ist praktisch in allen westlichen Demokratien der Fall. Es liegt daran, dass Journalistinnen und Journalisten mehrheitlich eine akademische Bildung haben. Denn würde man alle Akademiker und Akademikerinnen nach ihrer politischen Ausrichtung befragen, erhielte man denselben Befund: Ihre politische Meinung ist stärker links und grün gefärbt als bei der Gesamtbevölkerung. Die entscheidende Frage ist, ob Journalistinnen und Journalisten ihre Rolle professionell wahrnehmen, indem sie in ihrer täglichen Arbeit journalistisch entscheiden, von ihrer politischen Einstellung Abstand nehmen und diese allenfalls einfliessen lassen, wenn sie kommentieren.

Prinzing: Medienschaffende sind ziemlich oft Kritik ausgesetzt, das macht sie mitunter unsicher bezogen auf ihren beruflichen Auftrag. Sorgen macht mir besonders die zunehmende Unsicherheit darüber, was Ausgewogenheit bedeutet. Journalistinnen und Journalisten sollen zwar möglichst ausgewogen berichten. Problematisch ist es aber, wenn sie Ausgewogenheit mit «false balance» verwechseln. Es ist nicht ausgewogen, wenn man bei Debatten beispielsweise über Corona oder über den Klimawandel relativ extremen Randmeinungen viel Raum gibt, um sich ja nicht dem Vorwurf auszusetzen, man würde manche Ansichten unterdrücken.

Wo sehen Sie Defizite des Schweizer Politikjournalismus?

Blum: Was vor allem fehlt, ist die Berichterstattung über die Lokalpolitik. Eigentlich müsste an jeder Gemeindeversammlung ein politischer Journalist zugegen sein, das ist aber nicht zu schaffen. Das führt dazu, dass Gemeindepräsidenten und Gemeinderäte relativ viel Einfluss haben und Bürgerinnen und Bürger übertölpeln können, weil diese oft unvorbereitet an Gemeindeversammlungen teilnehmen. Da fehlt die kritische Beobachtung, denn es fehlen die entsprechenden Ressourcen.

Prinzing: Die meisten grossen Recherchen finden in nationalen oder internationalen Teams statt. Doch im lokalen und regionalen Bereich gibt es ebenfalls viel, was ganz ordentlich stinkt und der Investigation bedarf. Ich wünsche mir zudem mehr junge Formate, damit Nachwuchsjournalistinnen und Nachwuchsjournalisten vermehrt ausprobieren können, wie man Politik auf eine andere, frische Art erklären kann. Gerade Service-public-Angebote könnten hier entsprechende Spielräume schaffen.

Gibt es denn bereits bekannte Strategien, wie man jüngere Leute erreichen kann?

Prinzing: Es gibt sicher keinen Königsweg, aber es gibt Hinweise. Die Studierenden in der Schweiz und in Deutschland, mit denen ich arbeite, haben zum Beispiel ein grosses Faible für ­Berichterstattung mit Emotionen. Nicht im Sinn einer Skandalisierung, sondern indem erzählt wird, wie es den Leuten geht. Oder Formate, in denen eine Reporterperson auch mit persönlichen Elementen erzählt und erklärt, wie sie vorgeht.

Blum: Die Varietät der Darstellungsformen wird zu wenig ausgenutzt. Es braucht nicht nur Berichte und hie und da Kommentare, denn man kann Politik auch sehr gut erklären, indem man Geschichten erzählt, also mittels Porträts, Kurzreportagen, Features oder auch Glossen. Das braucht Phantasie, Zeit, manchmal auch Mut, aber man sollte es tun.

Buchtipp:
Marlis Prinzing/Roger Blum (Hg.): Handbuch Politischer Journalismus. Herbert von Halem Verlag, 2021, 909 Seiten


Roger Blum (77) ist emeritierter Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Universität Bern. Er war 25 Jahre lang als politischer Journalist tätig und unter anderem Mitglied der Chefredaktion des Tages-Anzeigers, ausserdem war er Präsident des Presserats sowie der UBI und Ombudsmann der SRG Deutschschweiz. In den 1970er- Jahren war Blum Mitglied des Parlaments des Kantons Basel-Landschaft.

Marlis Prinzing (60) ist Professorin für Journalistik an der Hochschule Macromedia Köln; sie hat auch Lehraufträge für Medienethik an den Universitäten in Fribourg und Zürich. Im Verlauf ihrer beruflichen Laufbahn war sie Redaktorin, arbeitete als freie Journalistin und ist Autorin einer Politikerbiografie. Ausserdem war sie in den Neunzigerjahren Mitglied des Gemeinderates der Stadt Süssen in Baden-Württemberg.

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