«Wenn man in Ausübung seines Berufes leiden muss, dann läuft etwas verkehrt»: Hannes von Wyl.

Aktuell – 21.09.2021

«Und es ist gut so.» Das Protokoll eines Scheiterns

Er war Ende zwanzig, als er den Zürcher Journalistenpreis gewann. Trotzdem plagt ihn das Gefühl, gescheitert zu sein. Der Journalist Hannes von Wyl erzählt, was das mit ihm gemacht hat und wie er den Erwartungsdruck, den Stress im Job, die Ungewissheit der beruflichen Zukunft zu kompensieren versuchte. Ein persönlicher Erfahrungsbericht – und ein scharfes Spiegelbild der Branche.

Von Hannes von Wyl

Da sass ich, im Mai 2018, mit dem Zürcher Journalistenpreis in der Tasche am Newsdesk von 20 Minuten, in einer weiteren temporären Anstellung, ich weiss gar nicht mehr, wie viele Arbeitsverträge ich in den wenigen Jahren meiner Karriere schon unterschrieben habe.

Und dachte: Ich bin gescheitert.

Dabei hatte alles gut angefangen. Ich absolvierte nach dem Bachelor auf der Lokalredaktion von 20 Minuten in Basel ein Praktikum und wechselte nach 5 Monaten ins Reporterteam nach Zürich. Nach ein paar Monaten dann zu SRF Online, erst in Bern, dann in Zürich. Und schliesslich eine Festanstellung als Newsredaktor und Online-Blattmacher beim Tages-Anzeiger, da, wo ich schon während der Schulzeit gesagt hatte: «Da will ich mal arbeiten, beim ‹Tagi›.»

Indes, die Arbeit war wenig glamourös. Um 4 Uhr 30 aufstehen für die Frühschicht, die Herablassung der Printkolleginnen und -kollegen, viel Verantwortung mit wenig Erfahrung. Dennoch, beim «Tagi»! Nach Praktika und temporären Anstellungen endlich nicht mehr die ständige Angst, im nächsten Monat keinen Lohn zu erhalten. Bei einer der besten Tageszeitungen des Landes arbeiten. Ich wollte investigativer Journalist werden, die grossen Recherchen im ersten Bund abliefern, die pushwürdigen Primeurs auf den Apps und Websites.

Alkohol als Schmiermittel. Ich verstand mich damals, als ich anfing bei der Tamedia in Zürich, als Teil einer jungen Elite, der trotz der Sparrunden der Verlage, trotz deren Kopflosigkeit angesichts eines zerbröckelnden Geschäftsmodells, trotz der jungen, smarten Konkurrenz Erfolg beschieden sein werde. Und mit jeder Aufmacherstory, mit jeder Magazin-Reportage und jedem Rundschau-Beitrag, die meine jungen, smarten Kolleginnen und Kollegen produzierten, stieg der Druck, endlich auch DIE Geschichte abzuliefern. Als Online-Blattmacher beim Tages-Anzeiger war das nicht möglich, da war ich zuständig für die schnellen News.

Und schnelle News gab es viele in diesen Terrorjahren von 2015 bis 2017. Charlie Hebdo, Bataclan, Nizza, Brüssel, Istanbul, London … die Namen verschwimmen in den immergleichen Headlines: «Sieben Tote im Flughafen», «15 Tote an der Strandpromenade». In den immergleichen Stories: «Die Attentäter waren dem Geheimdienst bekannt», «Lesen Sie hier die Chronologie der Terrornacht».

In immergleichen Pushs, Experteninterviews, Kommentaren, die mantraartig Solidarität und Einigkeit beschworen, als könnte man toten Kindern unter einem Lastwagen noch irgendetwas mitteilen. Da entwickelte sich mein Alkoholkonsum vom sozialen Schmiermittel zum Psychopharmaka, zwei, drei Hülsen nach dem Feierabend und ein ordentlicher Rausch am Wochenende, und die Welt war wieder in Ordnung. Bis zum nächsten Tag, zum nächsten Anschlag.

Wir Männer bleiben im Kampfmodus, immer dem Primeur entgegen, Bierdosen als Treibstoff.

Ausgezeichnete Recherchen. Dann die Möglichkeit, beim angesehenen Recherchedesk innerhalb der Tamedia ein einjähriges Volontariat anzutreten. Die Chancen nach dem Volontariat auf einen Job als Reporter stünden gut, hiess es, ich gab meine Festanstellung auf. Was für eine Erleichterung: Nicht mehr von den News getrieben durch die Welt zu hecheln, sondern den Geschichten dahinter nachzugehen. Von ausgezeichneten Journalistinnen und Journalisten zu lernen. Keine Schichtarbeit mehr, keine Wochenenden, genügend Zeit für Recherche.

Die Storys, die ich dort machen konnte, waren gut. Doch der grosse Erfolg blieb aus, und je länger ich da war, desto schlechter wurden die Aussichten auf eine Festanstellung. Der Druck verschlimmerte meine Alkoholprobleme noch, ich war in einem Limbus gefangen: Ich konnte nicht richtig arbeiten, weil ich zu viel trank, weil ich nicht richtig arbeiten konnte, weil ich zu viel trank. Das Rechercheteam war zu dieser Zeit daran, mit den Paradise Papers eine der grössten Enthüllungen in der Geschichte des Finanzjournalismus zu publizieren. Dafür erhielten wir gegen Ende meines Volontariats, im Frühling 2018, den Zürcher Journalistenpreis.

Konzept und Design der Artikelserie, zu deren Planung ich massgeblich beigetragen hatte, wurden in der Laudatio explizit gelobt. Das liess meine Hoffnung nochmals aufflackern. Sicherlich würde ich als Preisträger doch noch einen Job kriegen, dachte ich.

Einen Monat später sitze ich am Newsdesk von 20 Minuten in einer befristeten Anstellung und denke: Ich bin gescheitert. Ein grosser, schwerer Satz, der mich verfolgt, mir Angst macht in den schlechten Phasen, in denen ich nicht mehr weiss, wie ich weiterkommen soll in meinem Beruf.

In einem Beruf, der für den Erfolg mehr verlangt, als ich geben kann, wo die guten Jobs so rar sind, dass auch ein Journalistenpreis keine Erfolgsgarantie ist. Angst auch, weil ich keine Antwort weiss auf die Frage: Was soll ich sonst sein, wenn nicht Journalist? Es ist auch ein gefährlicher Satz in einer Branche, wo das Scheitern links und rechts festgestellt wird, bei Politikerinnen, Managern, gerne auch bei den eigenen Chefs, aber nie bei sich selber. Weil das ja bedeuten wurde, dass wir Journalistinnen und Journalisten auch nur Menschen sind, und dann wird das etwas schwierig mit der Position als Watchdog, der allen anderen auf die Finger schaut.

Um einen guten Job im Journalismus zu kriegen, musst du von dir überzeugt sein, deine Fähigkeiten sogar etwas überschätzen. Selbstzweifel haben da keinen Platz.

Männer im Kampfmodus. Wenn ich an unser junges, smartes Grüppchen zu Beginn meiner Karriere in Zürich zurückdenke, dann hatten vor allem die Männer Schwierigkeiten, ihre Ziele zu erreichen. Die Frauen sind Auslandkorrespondentinnen geworden, Ressortleiterinnen. Mich beschleicht der Verdacht, dass uns Männern schlicht nicht beigebracht wird, mit unseren Schwächen und Unzulänglichkeiten auf eine gesunde Art umzugehen.

Wir bleiben im Kampfmodus, immer geradeaus dem Primeur entgegen, Bierdosen als Treibstoff. Fossile Ungeheuer, die von der mentalen Energiewende überholt werden. Bei mir bedeutete das: Ich musste erst mitten in der Nacht im Vollsuff orientierungslos in der Aargauer Provinz herumstolpern, bevor ich mir eingestehen konnte, dass ich Hilfe brauchte. Meine Überzeugung aufzugeben, dass ich das schon irgendwie alleine schaffe, die Scham des Versagens abzulegen – das war ein harter, langer Prozess.

Deshalb sind Kampagnen wie #jjsmentalhealth der Jungen Journalistinnen und Journalisten Schweiz (JJS) so wichtig. Weil sie in unserer Branche ein Bewusstsein dafür schaffen, wie viel unser Job uns abverlangen kann. Weil sie darauf aufmerksam machen, dass unsere psychische Gesundheit mehr Wert ist als die knallige Schlagzeile. Dass es nicht «einfach dazugehört», dass man drei mager entlöhnte Praktika macht, auch nach Feierabend noch erreichbar ist, nur um mit der Furcht zu leben, dass der Job bei der nächsten Sparrunde von irgendwelchen Beratertypen wegrationalisiert wird. Dass man stolz darauf ist, wenn man sieben Tage durchgearbeitet hat. Dass früher auf manchen Redaktionen jeden Freitag eigentliche Besäufnisse stattfanden, weil sich nur so der Stress der Arbeitswoche abbauen lässt.

Ich habe gelernt, mit Druck und Stress anders umzugehen. Und manchmal auch einfach zu sagen: Das kann ich nicht.

Das mag man als «Gejammer» abtun, wie das ein Kollege aus meiner Redaktion auf Twitter schrieb. Es brauche schliesslich «Leidenschaft», um ein richtiger Journalist zu sein. Und genau da liegt das Problem. Wenn der strukturelle Abbau in den Verlagen und die Mentalität in der Branche bedingen, dass man in Ausübung seines Berufes leiden muss, dann läuft etwas verkehrt.

Mein persönliches Scheitern hat zwar nicht nur mit dem Journalismus zu tun. Dass der Leistungsdruck in unserer Gesellschaft aber viele Menschen krank macht, zeigen zahlreiche Studien. Die Medienbranche ist da keine Ausnahme – wir sind aufgrund der harten Konkurrenz und der prekären wirtschaftlichen Bedingungen vielleicht besonders gefährdet, psychische Probleme zu entwickeln.

Raus aus dem toxischen Umfeld. Eine Therapie bei der kantonalen Suchtberatung, sieben Monate Trockenheit, tolle Freunde und meine liebende Partnerin haben mir geholfen, meine Probleme wieder in den Griff zu kriegen. Und zu erkennen, dass ich zumindest für eine Weile aus diesem für mich toxischen Arbeitsumfeld raus musste.

Und jetzt?

Jetzt jage ich nicht mehr den Primeurs und Titelseiten nach, sondern versuche, die Geschichten meiner Kolleginnen und Kollegen so zu planen, anzutexten und zu produzieren, dass die Leser und Leserinnen dafür Geld bezahlen wollen. Das pusht zwar mein Ego weniger als die prominente Autorenzeile auf der Titelseite, aber letztlich braucht es für eine gute Geschichte mehr als nur einen harten Hund mit spitzer Feder.

Den Traum vom grossen Investigativreporter habe ich vorerst aufgegeben. Ich kann mir mittlerweile vorstellen, auch in anderen Berufen Erfüllung zu finden. Ich arbeite Teilzeit, habe dadurch Zeit für ein neues Studium, für gemeinnützige Projekte und regelmässiges Training. Ich habe gelernt, mit Druck und Stress anders umzugehen, mich selber besser wahrzunehmen und manchmal einfach zu sagen: Das kann ich nicht.

Und das ist gut so.

Hannes von Wyl (34) ist Abo-Manager bei der Redaktion Tamedia in Zürich. Er hat als Online-Journalist bei 20 Minuten, SRF und beim Tages-Anzeiger gearbeitet. Als Teil des Schweizer Paradise-Papers-Teams hat er den Zürcher Journalistenpreis gewonnen. Hannes von Wyl studiert Nahoststudien an der Universität Basel und hat mit seiner Partnerin und einer Freundin in Kenia geholfen, eine Schule für armutsbetroffene Kinder aufzubauen.

4 Kommentare

#1

Von Jules
22.09.2021
Ehrlicher Erfahrungsbericht. Bravo. Ich habe das mit den mageren Berufsaufsichten auch irgendwann erkannt, als ich als „erfolgreicher freier Mitarbeiter“ im Sport keine Chance hatte auf eine Festanstellung. In meiner Zeit wurde die Sportredaktion peu à peu um 50% verkleinert, ich habe mich erst gar nicht getraut, mein Interesse an einer Festanstellung anzukünden, angesichts der Leute, die gehen mussten. Dann, in einem Alter, wo andere Kinder haben, habe ich einen Vollstopp gemacht und komplett umgesattelt. Noch ein Studium, noch ein Master. Heute gehe ich jeden Tag mit einem Lachen im Gesicht zur Arbeit und hab keine finanzielle Sorgen mehr - und Kinder. Der Strukturwandel in den Medien wird weitergehen und die Bierdosenverkäufe weiter ankurbeln.

#2

Von Andy
23.09.2021
Als langjähriger Lokalredakteur, der die ganze Runde gedreht hat (Volontariat, fest angestellter Redakteur, Online-Redakteur, verantwortlicher für Media 2.0 in den Redaktionen (hahaha), freier Mitarbeiter, immer mal wieder Redakteur): Danke für die klugen Gedanken.
«Es ist auch ein gefährlicher Satz in einer Branche, wo das Scheitern links und rechts festgestellt wird, bei Politikerinnen, Managern, gerne auch bei den eigenen Chefs, aber nie bei sich selber. Weil das ja bedeuten wurde, dass wir Journalistinnen und Journalisten auch nur Menschen sind, und dann wird das etwas schwierig mit der Position als Watchdog, der allen anderen auf die Finger schaut. Um einen guten Job im Journalismus zu kriegen, musst du von dir überzeugt sein, deine Fähigkeiten sogar etwas überschätzen. Selbstzweifel haben da keinen Platz.»
Das! DAS! Ich arbeite nun «auf der anderen Seite», als Pressesprecher. Und bemerke eine unvorbereitete Art der Anfragen, eine Überheblichkeit, ein «mir doch egal, ich bin Journalist» in den Aussagen. Mir wird am Telefon direkt gesagt: «Keine Lust, nachzuschauen. Das kann doch die Pressestelle machen.» Die Nachfrager sind nicht mal mehr vorbereitet. Dazu kommt Wut, Zorn, Aggression und der unbedingte Wille, die nächste grosse Story zu machen - egal wie.
Reflexion, sich der Verantwortung zu stellen, was man arbeitet - null. Oder eher: es wird weniger als null. Stattdessen immer hektischer, zynischer, aber auch austauschbarer die Gesichter und Namen, die da aus den Reaktionen anrufen. Es macht mir Sorge. Sorge um die Redakteure. Um den Beruf, den ich bis heute liebe. Und um die Macht, mit der so sorglos herumgespielt wird.
Es passt vielleicht nicht sofort auf deine Aussage, aber deine Beobachtungen führen dann zu dem, was ich hier beschreibe. Gefährlich. Zeit, dass Journalismus sich auch selbst betrachtet. Gerade im lokalen Bereich wird ihm nicht gefallen, was er vorfindet.

#3

Von Reinhard Lindemann
25.09.2021
Sehr geehrter Herr von Wyl, danke für Ihre Offenheit und Ihren Mut!! Ihre persönliche Erfahrung und Leidensgeschichte ist es wert, geschrieben, gelesen und auch gehört zu werden. Vielleicht wird auch mal ein Film daraus.
Als Krankenpfleger kenne ich auch die Situation, dass der falschverstandene "Spardruck" zu unhaltbaren Arbeitsbedingungen führt, in denen die Arbeit / das System nicht mehr für den Menschen wirkt, sondern der Mensch dem System, der Arbeit oder dem Aktionär geopfert wird. Dieses wird stillschweigend hingenommen, weil es halt so ist, immer schon so war, man sowieso nichts machen kann ...
Wir wollen anderen Menschen mit unserer Arbeit helfen und vergessen, dass durch diese Strukturen und Sichtweisen wir zu den hilfsbedürftigen geworden sind. In unserem "Helfersyndrom" und unserer Bedürftigkeit nach menschlicher Anerkennung und Wertschätzung verlieren wir alles Mass für Duldsamkeit, ANstrengung und Leid; wir opfern uns auf dem Altar des Erfolges (meist anderer!).
Es wird Zeit, dass wir für uns einstehen! So traurig vieles auch ist - auch die Not der Jornalisten, der Pflegekräfte, aller in Care-Berufen arbeitenden, aller "Systemopfer" gilt es transparent zu machen, ihnen eine Stimme zu verleihen und die notwendig zu verändernden Strukturen aufzuzeigen.
Zusammenhalt und Öffentlichkeit helfen dabei. Der Mensch ist nicht nur ein Wolf, er ist immer noch auch ein soziales Wesen.
Danke für Ihre Arbeit und Ihre neue Achtsamkeit Herr von Wyl!!
Reinhard Lindemann

#4

Von Nicole Müller
26.09.2021
Toller Artikel. Mutig und offen. Mit Jahrgang 1962 wundere ich mich extrem oft, wie die Jungen das aushalten, das Prekäre, die Wahl zwischen Selbstzerstörung oder Zynismus. Die Arbeitswelt hat einen grausigen Turn genommen. Der Mensch, die Beziehung, die Verlässlichkeit, alles, was so wichtig ist, um gut arbeiten zu können, fehlt.

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