Bild: Adobe Stock

Aktuell – 16.03.2022

Welchen Journalismus braucht die Demokratie?

Neutrale Berichterstattung hilft den Mächtigen. Was es heute mehr denn je braucht, ist ein kritischer, den demokratischen Werten verpflichteter Journalismus.

Ein Essay von Marko Kovic

Democracy dies in Darkness». Demokratie stirbt im Dunkeln. Das ist der Slogan, den die Zeitung Washington Post 2017 als Reaktion auf einen Schock, der bis heute nachhallt, einführte: die Wahl Donald Trumps, eines Demagogen, der den journalistischen Medien («Feinde des Volkes»), aber auch der Realität an und für sich («alternative Fakten») den Kampf ansagte.

Nicht nur die Washington Post merkte damals, dass die Richtung, in die sich der politische Diskurs wandelt, mit Demokratie nicht kompatibel ist. Offenkundige Lügen im politischen Diskurs schienen mit Trump plötzlich salonfähig; Online-Falschinformation in all ihren Facetten, von Gerüchten über Verschwörungstheorien bis hin zu gezielter Desinformation, wurde zu einem weltweiten Phänomen; die Spirale von Hass und Radikalisierung drehte auf Social-Media-Plattformen immer schneller.

Trump markierte, so konstatierten wir auch in unseren Breitengraden, das Anbrechen ­eines «postfaktischen Zeitalters», in dem demokratische Werte und die Suche nach Wahrheit mit Füssen getreten werden. Begleitet wurde die Verkündung dieser Krise von einem besorgniserregenden Rückgang demo­kratischer Institutionen in zahlreichen westlichen Ländern. Demokratie war und ist unter Beschuss. Es geht um die Wurst.

Kritik und Kontrolle. Es wäre zwar schön, wenn es die weltweite Krise der Demokratie nicht gäbe; wenn Trump nie an die Macht gekommen wäre, wenn Hass und Falschinformation im Internet nicht so verbreitet wären, wie sie es sind. Aber die Krise, in der wir uns nach wie vor befinden – infolge der Coronavirus-Pandemie und der mit ihr verbundenen Explosion von Falschinformation und Hass wohl stärker denn je –, hat auch etwas Positives. In der Krise merken wir nämlich, dass kritischer Journalismus das Lebenselixier einer funktionierenden Demokratie ist. «Ohne Journalismus keine Demokratie»: Das alte Bonmot ist aktueller denn je.

Journalismus erfüllt grundsätzlich eine Reihe von Funktionen. Journalismus schafft und vermittelt Informationen und bildet damit das sprichwörtliche «Grundrauschen» der modernen Wissensgesellschaft; er schafft politische Öffentlichkeit, also den Raum der gemeinsamen Debatte; er schafft ein geteiltes Verständnis der Welt und vergemeinschaftet damit Menschen, die sich nie persönlich begegnen, zu einer Gesellschaft. Und vielleicht am wichtigsten: Journalismus übt Kritik und Kontrolle aus.

Journalismus hat nicht die Aufgabe, wertungsfrei Fakten in stenographischer Manier wiederzugeben. Journalismus bedeutet im Gegenteil auch, gemäss demokratischen Normen aufzuzeigen, wo Probleme existieren und wie diese zu lösen sind. Journalismus ist damit inhärent gesellschafts- und machtkritisch und deckt auf, wo wunde Punkte liegen, die uns als Gesellschaft nicht egal sein dürfen. Ein demokratisches Korrektiv gegen Machtungleichheit und -missbrauch und ein Bollwerk gegen Lügen, Propaganda, Desinformation.

Die einzige Kerze, die uns durch die Dunkelheit führt, ist dezidiert kritischer, demokratischen Werten verpflichteter Journalismus.

Marko Kovic

Aufzeigen, was ist, was nicht. Dieses Ideal des kritischen Journalismus teilen aber nicht alle. Nicht zuletzt in journalistischen Medienhäusern selber wird die Funktion von Kritik und Kontrolle bisweilen mit Argwohn betrachtet. Viele Journalistinnen und Journalisten sehen sich nicht als Hüterinnen und Hüter der Demokratie, sondern eher als «neutrale», «objektive» und «ausgewogene» Vermittlerinnen und Vermittler von Informationen und Meinungen; sie wollen nicht in den Dunstkreis von «Haltungsjournalismus» kommen.

Auf den ersten Blick mag dieses Selbstverständnis einleuchtend sein. Journalistinnen und Journalisten sollen schliesslich, so unser Bauchgefühl, aufzeigen, was ist, und nicht, was sein soll. Wir wollen Fakten, nicht Meinungen. Doch diese Sicht der Dinge ist verkürzt, und zwar aus mindestens zwei Gründen.

Eine Reduktion von Journalismus auf «neutralen» Journalismus bedeutet erstens, dass gesellschaftliche Missstände nicht aufgedeckt und problematisiert werden können. Um auf das eingangs erwähnte Beispiel von Donald Trump zurückzukommen: Ein «neutraler» Journalismus hätte bei Donald Trump und dessen jahrelangen ­Lügen – von der Lüge über das angeblich grosse Publikum bei seiner Amtseinführung bis hin zur Mega-Lüge des angeblichen Wahlbetrugs bei seiner Wahlniederlage – nicht kritisch einordnen dürfen, weil damit ja Partei bezogen wird.

Wirklich «neutraler» Journalismus hätte in den Trump-Jahren höchstens die Aussagen Trumps anderen Aussagen gegenüberstellen dürfen, in bester «False Balance»-Manier: Beide Seiten kommen zu Wort, und das Publikum soll «selber entscheiden». Das wäre aber offenkundig wenig mehr als pseudojournalistische Theatralik ohne wirklichen Informationsgehalt. Kaum jemand von uns will wirklich in einer Gesellschaft leben, in der es ­beispielsweise keinen kritischen Investigativjournalismus gibt, in der Wahrheit und das moralisch Richtige keine Rolle für den Journalismus spielen.

Verzerrte Neutralität. Zweitens bedeutet «neutraler», seine Kontroll- und Kritikfunktion scheuender Journalismus, dass der gesellschaftliche Status quo mit all seinen Machtasymmetrien und Ungleichheiten über die journalistische Berichterstattung reproduziert wird – «neutraler» Journalismus ist in Tat und Wahrheit gar nicht neutral, sondern zugunsten bestehender Machtverhältnisse verzerrt.

Diese Beobachtung haben nicht zuletzt der Sprachwissenschaftler Noam Chomsky und der Ökonom und Medienanalyst Edward S. Herman in ihrem Klassiker «Manufacturing Consent» gemacht. Medienorganisationen sind nicht neutrale Beobachter, die von oben herab und unbefangen die Gesellschaft beschreiben. Sie sind ganz im Gegenteil ein wesentlicher Bestandteil der Gesellschaft, die sie beschreiben sollen. Sie sind deshalb auch einer Reihe wirtschaftlicher und politischer Dynamiken aus­gesetzt, welche bestimmen, wie genau ihre «Neutra­lität» ausfällt.

Journalismus ist machtkritisch und deckt auf, wo wunde Punkte liegen, die uns als Gesellschaft nicht egal sein dürfen.

Neutral und elitenorientiert. «Neutraler» Journalismus ist zum Beispiel stark Eliten-orientiert: Die Meinungen und Einstellungen politischer und wirtschaft­licher Eliten, also der Organisationen und Personen in den gesellschaftlichen Machtpositionen, erhalten in «neutralem» Journalismus standardmässig mehr Gehör als die Meinungen und Ein­stellungen weniger privilegierter zivilgesellschaftlicher Akteure, welche die Eliten herausfordern.

Der Kommunikationswissenschaftler Lance Bennett beschreibt diese latente Orientierung an Eliten als «Indexing»: Was im «neutralen» Journalismus zählt, ist in erster Linie und grundsätzlich die Perspektive der Machtinhabenden und nicht die Frage, was im Sinne der Allgemeinheit faktisch oder normativ disku­tabel und problematisch ist. Aber wenn Journalismus immer nur die Ansichten der Mächtigen reproduziert, kann es ­keinen gesellschaftlichen Fortschritt geben.

Demokratie stirbt im Dunkeln. An dieser Stelle mag man einwenden, dass es uns in der Schweiz doch noch gut geht. Wir sind eine stabile Demokratie; Trumpismus und dessen antidemokratische Metastasen sind weit von uns entfernt. Darum darf auch der Journalismus hierzulande zurückhaltender sein. Oder?

Falsch. Wir brauchen kritischen Journalismus, bevor unsere Demo­kratie an den Rand der Implosion kommt. Wir dürfen kritischen Journalismus nicht als Therapie ansehen, die dann zum Zuge kommt, wenn das Schlimmste schon ­geschehen ist, sondern als präventive Massnahme, ­damit die Patientin gar nicht erst im Spital landet.

Es ist begrüssenswert, dass Donald Trump einen Ruck durch die US-amerikanische und die internationale Medienlandschaft hin zu kritischem Journalismus bewirkte – aber der zu wenig kritische und zu sehr auf «Neutralität» und «Ausgewogenheit» pochende Journalismus vor Trump war eben vielleicht genau einer der Gründe, warum die antidemokratische Ideologie des Trumpismus überhaupt erst Fuss fassen konnte.

Demokratie stirbt im Dunkeln. Die einzige Kerze, die uns durch die Dunkelheit führt, ist dezidiert kritischer, demokratischen Werten verpflichteter Journalismus. Die Kerze darf nicht erlöschen, sondern muss heute mit grösserer Flamme denn je weiterbrennen.

Ihr Kommentar

Bitte füllen Sie alle Felder aus.
Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

* = erforderlich

Sicherheitscode *