Foto: swiss-image.ch/Viviane Schmid

Zukunftsmodelle – 12.12.2019

«Wir fischen in einem sehr kleinen Teich»

Zwei Halbkantone, zwei Zeitungen: Die Ausserrhoder «Appenzeller Zeitung» und der Innerrhoder «Appenzeller Volksfreund» haben eine unterschiedliche Geschichte und unterschiedliche Strategien – aber mehrheitlich dieselben Probleme. Das zeigt ein Besuch im Appenzellerland.

Von Bettina Büsser

Das Appenzellerland: etwas mehr als 400 Quadratkilometer gross, teils hügelig, teilweise sogar gebirgig; viele Schweizerinnen und Schweizer assoziieren damit wohl Käse, Sennen in gelben Hosen, Silvesterchläuse und Frauenstimmrecht. Dass es aus zwei Halbkantonen besteht, wissen wahrscheinlich alle.

Im Hauptort jedes Halbkantons ist eine Lokalzeitung domiziliert: die Appenzeller Zeitung im ausserrhodischen Herisau, der Appenzeller Volksfreund im innerrhodischen Appenzell. Letzterer existiert seit 1876 und wird von einer Genossenschaft verlegt. «In den Statuten steht als erster Satz das Ziel, ‹Herausgabe einer eigenen Zeitung›», sagt Volksfreund-Redaktionsleiter Rolf Rechsteiner: «Das stand in all den Jahren nie zur Diskussion.» Mittlerweile sei der Volksfreund die einzige unabhängige Zeitung in der Ostschweiz. Er erscheint viermal wöchentlich und erreicht derzeit eine Auflage von 4978 Exemplaren. Und dies in erster Linie in Appenzell Innerrhoden, wo in einem Gebiet von 173 Quadratkilometern 16 145 Einwohnerinnen und Einwohner leben.

Rechsteiner arbeitet seit 20 Jahren für den Volksfreund, seit 19 Jahren als Redaktionsleiter. Neben ihm sind drei Personen für den Inhalt der Zeitung zuständig: «Ein Blattmacher und zwei Redaktoren, die im Wesentlichen Frontarbeit machen. Ich selber mache auch viel Frontarbeit», sagt Rechsteiner.

Frontarbeit heisst, möglichst alle Geschehnisse und Veranstaltungen in Innerrhoden abzudecken: «Die Leute, die unser Abonnement haben und hier wohnen, sollten sich irgendwann in der Zeitung wiederfinden, das ist auch wichtig für die Verankerung», so Rechsteiner: «Es wird erwartet, dass die Zeitung an den Veranstaltungen auftaucht.» Ohne freie Mitarbeitende wäre das nicht möglich. Man könne sich, sagt Rechsteiner, keine BR-Tarife leisten, habe aber in jedem Dorf zwei, drei Personen, die man für Einsätze anfragen könne.

Rolf Rechsteiner, Chefredaktor Appenzeller Volksfreund

Feuerwehr und Jodelchörli. Politische Themen decken die Redaktionsmitglieder ab. Die Korrespondenten schreiben etwa über die Hauptübung der Feuerwehr Rüte, die Pfarreiversammlung in Gonten oder den Unterhaltungsabend des Jodelchörlis Wildkirchli in Schwende. Solche Berichte aus den Gemeinden machen einen grossen Teil der vier bis fünf «Innerrhoden»-Seiten des Volksfreunds aus, dazu kommen ein bis zwei Seiten «Appenzellerland» mit Artikeln über Ausserrhoden.

Zur Zeitung gehören zudem eine Seite «Ostschweiz» sowie je eine Seite «Ausland», «Inland» und Vermischte Meldungen – alle alimentiert durch Meldungen von Keystone-SDA. Rechsteiner macht sich darum Sorgen über die Entwicklung dort: «Wenn sie noch mehr Stellen abbauen, ist unser Mantel gefährdet.»

Pro Tag eine Kuh im Blatt. Bei der Appenzeller Zeitung in Herisau muss man sich um den Mantel nicht kümmern: Sie ist ein Kopfblatt des CH-Media-Verbunds. «Wir sind eine klassische Lokalzeitung, die aber in einem Zeitungsverbund integriert ist – mit allen Vor- und Nachteilen», sagt Redaktionsleiter David Scarano. Die Redaktion besteht aus sieben Redaktorinnen und Redaktoren, dazu kommt ein Volontär. Scarano ist erst seit Mai 2019 wieder bei der Appenzeller Zeitung, bei der er bereits von 2003 bis 2013 gearbeitet hatte. Seine Redaktion in Herisau produziert täglich vier bis fünf Seiten, «lokal-lokal», wie er sagt.

Man sei aber in einem Prozess der «Verwesentlichung»: «Wir haben weniger Personal und weniger Seiten als früher. Die Chronistenpflicht, wie es sie früher gab, können wir nicht mehr erfüllen.» Man besuche weniger Anlässe, setze dafür vermehrt selber Themen und Schwerpunkte, publiziere längere Texte anstatt viele kleine Berichte.

«Die Chronistenpflicht, wie es sie früher gab, können wir nicht mehr erfüllen.»

David Scarano

«Wir müssen beim Themenmix eine Balance finden», sagt Scarano. Im Einzugsgebiet lebten auch viele Leute, die urban orientiert seien. «Sie sagen mir: ‹Mich interessiert nicht, was in Hundwil läuft. Kannst du nicht mehr über die Stadt St. Gallen berichten?›» Gleichzeitig gebe es noch viele ländlich geprägte Gebiete und das Brauchtum sei wichtig. Als Beispiel nennt er die Viehschauen in den einzelnen Gemeinden: «Insgesamt sind es rund 20 Schauen; wenn wir, wie früher, jede abdecken würden, hätten wir pro Tag eine Kuh im Blatt.» Nun mache man eine grosse Vorschau und berichte in einem Turnus über die einzelnen Schauen, sodass jede innerhalb von drei Jahren einmal berücksichtigt werde. Es gibt auch so noch genügend Pflichtstoffe.

Die Appenzeller Zeitung erreicht derzeit eine Auflage von 10 340 Exemplaren und ist, so betont Scarano, «eigentlich die Zeitung für beide Halbkantone». Auch wenn sie in Ausserrhoden mit seinen 55 309 Einwohnerinnen und Einwohnern mehr Abonnements hat und laut Scarano «tendenziell mehr über Ausserrhoden berichtet, auch weil Ausserrhoden grösser ist».

Die beiden Halbkantone haben sich übrigens 1597 getrennt – eine Folge der Reformation. Ausserrhoden war ­danach reformiert, liberal und mit der Stickerei-Industrie früh industrialisiert, Innerrhoden ländlich und konservativ. Die Unterschiede und Gräben zwischen den Halbkantonen haben sich verringert – es gibt sie aber nach wie vor. Wirtschaftliche Sorgen kennen beide. Innerrhoden habe lange zu den ärmsten Kantonen der Schweiz gehört, erzählt Rolf Rechsteiner. In der Zwischenzeit habe man, auch dank neuer innovativer Technologiefirmen, aufgeholt.

In Aus­serrhoden gingen laut David Scarano mit dem Niedergang der Textilindustrie ab den 1920er-Jahren viele Arbeitsplätze verloren: «Zwar hat sich vieles gut entwickelt, es gibt neue Industrien und auch mehr Pendler, die hier wohnen, aber die Bevölkerungszahl erholt sich nur langsam.»

David Scarano, Chefredaktor Appenzeller Zeitung

Ausserrhoden war einst eine liberale Hochburg – und diese Bewegung hat 1828 die Appenzeller Zeitung hervorgebracht: Sie war bei ihrer Gründung ein Kampfblatt für Demokratie und gegen Zensur und deshalb bundesweit bekannt. Später wurde sie zu einer regionalen Tageszeitung und belieferte als selbständige Vollzeitung andere Regionalblätter mit einem Mantel. 1998 wurde sie selbst zur Mantelabnehmerin des St. Galler Tagblatts. Im gleichen Jahr wurde sie zu 40 Prozent vom zur NZZ-Gruppe gehörenden St. Galler Tagblatt AG übernommen, 2006 schliesslich ganz.

Rückzug aus dem Appenzellerland. David Scarano kennt diese Geschichte natürlich. «Anhand unserer Zeitung kann man die Entwicklung vielleicht noch markanter aufzeigen als anderswo», sagt er: «Die Rahmenbedingungen in der Medienlandschaft haben halt dazu geführt.» Und nun folgt ein weiterer Schritt: Auf April 2020 wird die Redaktion der Appenzeller Zeitung in die Tagblatt-Zentralredaktion in St. Gallen umziehen – im Zuge der Sparmassnahmen bei CH Media.

«Die Aussenwirkung dieses Schritts ist nicht so gut», sagt Scarano, es sehe ein bisschen aus wie ein Rückzug aus dem Appenzellerland. Gleichzeitig spreche aus Sicht der Redaktion einiges dafür: ein moderner Newsroom in St. Gallen mit allen zentralen Angeboten. Und St. Gallen liege zentral zum Appenzellerland. «Man ist schneller in Heiden und Teufen als von Herisau aus.» Ausserdem habe man dadurch, dass man bei der Immobilie spare, beim Personal weniger abbauen müssen, nur eine 20-Prozent-Stelle. Andere Regionalredaktionen trifft es härter.

Zwei Redaktoren der Appenzeller Zeitung werden weiterhin in Herisau sein; ob dies am jetzigen Standort an der Kasernenstrasse sein wird, ist offen. Das Haus dort steht übrigens auch für die Geschichte der beiden Zeitungen: Ursprünglich gehörte es dem Appenzeller Medienhaus AG, der früheren Herausgeberin der Appenzeller Zeitung. 2014 verkaufte das St. Galler Tagblatt AG aber die Sparte Druck und das Haus an die Genossenschaft Druckerei Appenzeller Volksfreund. Die Redaktion der Appenzeller Zeitung war seither beim «Kleinen» aus Innerrhoden eingemietet.

Die Genossenschaft, die keinen Gewinn für Aktionäre abwerfen muss, hat den Kauf möglich gemacht. Zum Vorstand der Genossenschaft gehört auch die Innerrhoder Regierungsrätin Antonia Fässler (CVP). Es sei schon immer jemand aus der Standeskommission, der Regierung, im Verwaltungsrat gewesen, sagt Rechsteiner, aber «sie machen uns keinerlei Vorschriften». ­

«Wir müssen so an den Karren fahren, dass wir nicht selber schrottreif werden.»

Rolf Rechsteiner

Allerdings wurde der Volksfreund früher wegen seiner Regierungsnähe als «Prawda vom Säntis» bezeichnet. «Das war eher vor meiner Zeit», so Rechsteiner: «Wir können jedem Mitglied der Standeskommission an den Karren fahren, wenn es sein muss. Aber wir müssen so an den Karren fahren, dass wir nicht selber schrottreif werden. Man muss fair miteinander umgehen.»

Redaktion und Zeitungsdruckerei des Volksfreunds sind in einem traditionellen Haus im Zentrum von Appenzell untergebracht. Gegen vier Uhr nachmittags laufen hier die Druckmaschinen an, denn der Volksfreund wird via Post ausgeliefert und muss deshalb um sechs Uhr dort eintreffen. Die Exemplare werden fast alle an Abonnenten geschickt, nur einige wenige gehen laut Rechsteiner an den Kiosk in Appenzell. Denn man bewege sich in einem eng begrenzten Markt: «Wir fischen in einem kleinen Teich.»

Der Volksfreund hat keinen Online-Auftritt mit seinen Inhalten, es gibt nur eine digitale Ausgabe. Man habe sich eine Bezahlschranke überlegt, so Rechsteiner, doch die Kosten eines solchen Systems würden die möglichen Einnahmen übersteigen. Die Appenzeller Zeitung hat ihren Online-Auftritt als regionaler Teil des Tagblatt-Systems, das eine Bezahlschranke kennt. Direkt sind die Texte unter www.appenzellerzeitung.ch zu finden.

Sinkende Abozahlen. Nicht nur in der Art des Lokaljournalismus, auch im digitalen Bereich unterschieden sich die Strategien von Volksfreund und Appenzeller Zeitung also. Ihnen gemeinsam ist, dass sie sich mit den Problemen des Medienwandels herumschlagen: sinkende Abo-Zahlen, weil die treuen Abonnenten wegsterben, weniger Werbung, weniger Einnahmen. Dazu gibt es etwas Konkurrenz, etwa durch Gemeindezeitungen.

Und natürlich konkurrenzieren sich Volksfreund und Appenzeller Zeitung auch gegenseitig. Das klingt bei allem Wohlwollen manchmal durch. Etwa, wenn David Scarano überlegt, wer denn heute mit einer Zeitung zufrieden sei, die neben lokalem Agendajournalismus einen kleinen Mantel mit SDA-Meldungen biete. Oder wenn Rolf Rechsteiner erwähnt, dass ihm Ausserrhoder sagten: «Ihr seid noch eine richtige Zeitung, bei euch liest man noch, was in den einzelnen Gemeinden passiert.»

Bettina Büsser

Redaktorin EDITO

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