Flüchtlingsfrage – 10.12.2015

Die Rolle der Medien in der Flüchtlingsfrage

Warum verändert sich die mediale Darstellung der Flüchtlingsfrage? Weshalb hat der Boulevard sein Herz für sie entdeckt? EDITO+KLARTEXT hat nachgefragt.

Von Bettina Büsser, Mitarbeit Alain Maillard

Flüchtlings-Drama: Wir sehen nicht weg!" – so titelte der "Blick" am 1.  September. Die Frontseite war gefüllt mit einem grossen Bild von auf Bahngeleisen wandernden Flüchtlingen und 36 kleinen Bildern von Schweizer Prominenz. Das Flüchtlingsbild sprach für sich, die abgebildeten
Prominenten sprachen sich für die Spendenaktion "Wir helfen!" aus, für die
der "Blick" warb.*

Ebenfalls auf der Front: ein Text von "Blick"-Chefredaktor René Lüchinger, der von Menschen in Not, von qualvoll gestorbenen Flüchtlingen, von skrupellosen Schleppern sowie zynischen und egoistischen Grenzzaun-Hochziehern schrieb. Und davon, dass "wir uns alle schuldig" machten, wenn wir die Augen vor der Flüchtlingswelle  verschlössen. Und deshalb aufgerufen seien, das "unermessliche Leid" mit Spenden etwas zu lindern.

Der "Blick" ruft mit Prominenz zur Solidarität mit Flüchtlingen auf? Das könnte erstaunen, wenn nicht in der gleichen Zeit dasselbe Phänomen in Deutschland bei der "Bild" zu beobachten gewesen wäre (siehe Beitrag Haltung zeigen). Stefan Frey, Mediensprecher Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), sieht den Grund dafür darin, dass die fast pausenlose elektronische Berichterstattung über die Situation auf dem Balkan und die dazu gelieferten Bilder wesentlich dazu beigetragen haben, die Stimmung in breiten Teilen der Bevölkerung zugunsten der Flüchtlinge zu verändern: "Die Katastrophe nähert sich buchstäblich, die Bilder sind unerträglich. Die Folge war zunächst eine seit Jahrzehnten nicht erlebte Solidaritätswelle, ausgehend von Deutschland."

Diesem Stimmungswandel hätten sich die Printmedien, "insbesondere der Boulevard", nicht verweigern können; sie hätten mit eigenen Recherchen und eigentlichen Kampagnen nachgezogen. "Es bleibt abzuwarten", so Frey, "ob der in den letzten Wochen vollzogene Wechsel in der Flüchtlingsberichterstattung und in deren Tonlage nachhaltig sein wird und ob die konstruktiv-kritische Begleitung der Ereignisse auch bis zur sozialen und wirtschaftlichen Integration der hier eintreffenden Menschen anhält."

Welche Überlegungen standen hinter der "Blick"-Aktion mit dem  Spendenaufruf? "Man überlegt sich natürlich immer, wie man Themen, von denen man weiss, dass sie uns eine Weile beschäftigen werden, journalistisch und inhaltlich  umsetzt", sagt Chefredaktor Lüchinger. Die Idee sei gewesen, via verschiedenste Leute, die den "Blick"-Aufruf zumindest ideell unterstützten, die Betroffenheit auszudrücken. "Man hat natürlich gesehen, dass die Flüchtlingsproblematik grösser werden wird und dass es ohne substantielle Hilfe nicht gehen wird", so Lüchinger.

Wie ein Stück Holz angeschwemmt.

Zwei Tage nach der "Wir sehen nicht weg!"-Aktion brachte der "Blick" auch das Bild des toten syrischen Jungen Aylan am Strand, gross – wenn auch nicht auf der Frontseite –, das Gesicht des Kindes verpixelt, mit der Schlagzeile "Anklage an die Welt".

"Wir haben das Bild von Aylan bewusst gebracht, als Erste in der Schweiz", sagt Lüchinger: "Es gibt natürlich immer die Diskussion, ob man so ein Bild zeigen darf und soll. Aber ich habe entschieden, dass wir es bringen." Denn es bringe die Flüchtlingsproblematik auf einen Punkt: "Ein Kind, das das ganze Leben vor sich hatte, wurde wie ein Stück Holz angeschwemmt. Präziser kann man das ganze Elend nicht zeigen. Gleichzeitig war mir klar, dass das Bild die Haltung der Öffentlichkeit zur Flüchtlingsproblematik verändern wird."

Am 18. September schliesslich erschien eine ganz spezielle "Blick"-Ausgabe:
Der erste Bund widmete sich fast ausschliesslich dem Thema "Flüchtlinge" – und 13 in der Schweiz lebende Flüchtlinge arbeiteten an dieser Nummer mit. Ihre Porträts zierten die Frontseite, im Blatt erzählten sie ihre Geschichten und interviewten Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga zur "Flüchtlingskrise".

Warum diese Spezialnummer? "Wir haben Reportagen aus Deutschland, Österreich, Serbien, Ungarn zu ganz unterschiedlichen Themenbereichen zur Flüchtlingsproblematik gebracht, die normale Boulevard-Berichterstattung. Die Sicht der Flüchtlinge konnten wir dabei immer nur indirekt einfangen", sagt Lüchinger. Deshalb habe man sich angeregt durch Lüchingers Stellvertreter Andreas Dietrich gefragt, wie es wäre, Flüchtlingen eine "Blick"-Ausgabe zur Verfügung zu stellen. Lüchinger: "Ich finde das Resultat hochemotional, hervorragend, weil es eben auch einen Blickwinkel hineinbringt, der in der normalen Berichterstattung nicht vorkommt."

"Wer den Wind verstärkt,
arbeitet schlecht."

Michel Jean­ne­ret (L’Illustré) zur
Bericht­er­stat­tung über die Flüchtlingskrise

Auch in der Westschweiz gab es im September in Boulevard-Medien Aufrufe zur Hilfe für Flüchtlinge. "Die Schweizer stehen auf, um den Migranten zu helfen", titelte zum Beispiel "Le Matin Dimanche" am 6. September. Und listete "sieben Möglichkeiten, in der Schweiz Flüchtlingen zu helfen" auf.

Michel Jeanneret, Chefredaktor von "L’Illustré", analysiert die Haltung der Boulevardmedien folgendermassen: "Sie beobachten die  öffentliche Meinung immer sehr aufmerksam. Deshalb pendeln sie manchmal auf erstaunliche Art und Weise zwischen dem Anprangern von Missbräuchen im Sozial- und Asylwesen, also einer traditionell rechten Position, und dem Anprangern von Ungleichheit und humanitärem Elend, einer linken Position, hin und her."

"Keine Gutmenschenzeitung". Dieses "Pendeln" zeigte sich ein Stück weit auch im "Blick": Zwischen der "Wir helfen!"-Ausgabe und der "Flüchtlingsnummer" kam er mit einem Cover heraus, das ganz anders wirkte: Eine Masse von Flüchtlingen bewegt sich auf den Betrachter zu, die Schlagzeilen lauten "Ausser Kontrolle!" und "Flüchtlinge überschwemmen Europa". Steht dieses eher bedrohlich wirkende Cover nicht im Widerspruch zu den beiden anderen Frontseiten? "Nein, denn das ist das breite Spektrum der Realität", sagt Lüchinger.

Der "Blick" sei "nicht eine Gutmenschenzeitung", die nur noch die genehmen Seiten zeige und die Berichterstattung entsprechend färbe, sondern müsse das ganze Spektrum zeigen: "Wir definieren uns nicht nur im politischen Sinne als unparteiisch, sondern auch in der Behandlung der Themen. Dort wollen wir uns an der Realität messen lassen. Man muss einerseits wirklich helfen, andererseits darf man die Augen nicht vor dem verschliessen, was geschieht. Sonst wird man unglaubwürdig."

Das Einzige, was Lüchinger bei dieser Titelgeschichte im Nachhinein ändern würde, ist: "Ich würde nicht mehr schreiben ‚Flüchtlinge überschwemmen Europa’. Ich würde heute schreiben ‚Flüchtlinge stürmen Europa’."

Egal, wie es formuliert wird: Ähnliche Aussagen fanden und finden sich auch in Nicht-Boulevard-Medien. Genauso wie Aufrufe zur Unterstützung von Flüchtlingen. "Ich denke, dass alle Pressetitel, auch die seriösesten, ein Stück weit dem herrschenden Wind folgen", sagt "l’Illustré"-Chefredaktor Jeanneret. Das sei auch gut so, denn es bedeute, die Interessen der Leserschaft zu berücksichtigen. "Grundlegend wichtig aber ist, was dann folgt: die Qualität der Information. Das ist der journalistische Akt", sagt Jeanneret: "Diejenigen, die den Wind verstärken, machen ihre Arbeit schlecht."

Die Qualität der Berichterstattung zum Thema Flüchtlinge hat das Forschungsinstitut Öffentlichkeit und Gesellschaft / Universität Zürich (fög) untersucht – allerdings endet der untersuchte Zeitraum vor den aktuellsten  Ereignissen. Die Studie umfasst die Berichterstattung von 2011 bis und mit Juni 2015; Ergebnisse liegen EDITO+KLARTEXT exklusiv vor.

So etwa zur Intensität der Berichterstattung über die Flüchtlingsthematik in den beiden Gruppen Boulevard- und Gratispresse ("Blick", "Le Matin", "20Minuten") sowie Abonnementspresse (NZZ, "Tages-Anzeiger", "Le Temps"): Gratis- und Boulevardpresse thematisieren das Thema Flüchtlinge deutlich weniger als die Abonnementspresse. Spannend ist, dass eine intensivere oder weniger intensive Thematisierung des Flüchtlingsthemas zum Teil wenig zu tun hat mit der Intensität der Berichterstattung zum Thema Schweizer Asylpolitik. So wurde über das Thema Flüchtlinge zwischen April 2011 und März 2013 wenig intensiv berichtet, über das Asylthema aber weit intensiver.

Ab Ende 2014 berichteten die Medien zunehmend über die Flüchlingsthematik

Ab Ende 2014 berichteten die Medien zunehmend über die Flüchlingsthematik

Bootsunglücke. Intensiv wurde die Berichterstattung zum Thema Flüchtlinge immer dann, wenn dramatische Bootsunglücke mit vielen Todesopfern auf dem Mittelmeer geschahen. Je nach Art des Mediums waren Flüchtlinge aber auch dazwischen ein Thema. Dies am wenigsten beim "Blick". "20Minuten" berichtete zwischen den dramatischen Bootsunglücken zwar häufiger als der "Blick", laut Studie aber dann in erster Linie "im Rahmen von Agentur-Kurzmeldungen über weitere Bootsunglücke". "Tages-Anzeiger" und, am meisten, die NZZ befassten sich hingegen nachhaltiger und dauerhafter mit
dem Thema.

Die beiden Zeitungen haben gemäss Studie mehr  Einordnungsleistung erbracht und Hintergrundinformationen vermittelt, "20Minuten" hat oft nur in Form von kurzen Agenturmeldungen über die Flüchtlingskrise informiert. Der "Blick" hat "nur selektiv über die Thematik, dann jedoch meist umfassend und mit einem Bezug zur Schweiz" berichtet.

Seit dem Ende des untersuchten Zeitraums haben sich die Verhältnisse verändert. "Es gibt in der Berichterstattung einen komplett neuen Fokus auf die Flüchtlingsthematik: Die Mittelmeer-Flüchtlinge sind ganz in den Hintergrund getreten, die Flüchtlinge in den östlichen Ländern und die entsprechenden politischen Fragen stehen im Vordergrund", sagt fög-Institutsleiter Mario Schranz.

Er stellt eine "extreme Intensivierung" der Berichterstattung sowohl im Boulevard ("Blick") wie bei der Gratiszeitung ("20Minuten") fest. Die Berichterstattung im Boulevard habe sich zudem sehr stark verändert: "Normalerweise thematisiert man Flüchtlinge im Kontext von Problemen, nun vermehrt im Kontext mit ihren Schicksalen. Man kann von einer momentanen Kehrtwende sprechen. Doch beim Boulevard ist die moralische Beurteilung leicht veränderbar."

Tod im Camion. Wie und was die Medien über Flüchtlinge berichten, beobachtet in der Westschweiz das "Comptoir des médias", das zu "Vivre ensemble" gehört, einer Organisation für Information und Dokumentation zum Asylrecht. Projektleiterin Cristina Del Biaggio sieht drei Ereignisse, die die Berichterstattung zu den Flüchtlingen verändert haben: "Zwei davon waren der Camion mit den 71 Toten in Österreich und der Tod von Aylan.

Aber es gab bereits vorher einen Wandel, mit den Bildern von Kindern an der mazedonischen Grenze. Denn vor diesen Bildern sah man vor allem die
Boote auf dem Mittelmeer mit Afrikanern, erwachsenen, dunkelhäutigen Männern, die Angst machen und die Vorstellung einer Invasion ohne erkennbare Fluchtgründe auslösen. Eine syrische Familie hingegen kann nur eine Familie von echten Flüchtlingen sein. Weil sich die archetypischen Figuren auf den Bildern verändert haben, hat sich auch der Diskurs  verändert."

* Die gesammelten Spenden gingen an die Glückskette.

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