Aktuell – 19.06.2022

Die Stör-Journalisten der Hauptstadt

Die Hauptstadt hat sich einen zukunftsgerichteten Journalismus auf die Fahne geschrieben. Was das bedeutet und wo das Potenzial liegt.

Von Vanessa Simili

Das weisse Tuch an der Fassade bläht sich im Wind, darauf unverkennbar: ein H mit Serifen. Das H für Hauptstadt. Die Redaktion der jüngsten Online-Zeitung, seit 7. März 2022 nach einem erfolgreichen Crowdfunding erfolgreich gestartet, ist für den Grossraum Bern mit seinen 400’000 Einwohnerinnen und Einwohnern gerade für eine Woche in den ehemaligen Bahnhof in Ostermundigen gezogen. Feldforschung, in gewisser Weise.

Im denkmalgeschützten Gebäude, neuer­dings vom Kunstforum Ostermundigen als Kulturbahnhof geführt, hat sich die zehnköpfige Redaktion vorübergehend eingerichtet. Von hier aus erkunden die Journalistinnen und Journalisten den Ort, ent­decken Geschichten, berichten aus einem Ostermundigen, das sie zuvor – in dieser Art jedenfalls – noch nicht gekannt haben.

Labor sein. Mehrere Tische stehen aneinandergereiht wie eine lange Werkbank schräg im Raum. Hinten eine Bar aus Paletten. Die Stimmung erinnert an einen Co-working-Space. Es ist die Einfachheit der Einrichtung, die der Atmosphäre etwas Leichtes, Experimentelles verleiht. Und das ist den Initiantinnen und Initianten ein Anliegen. «Wir wollten von Anfang an auch ein Labor sein, um publizistische Ideen und neue Zugänge auszuprobieren», so Marina Bolzli, ehemalige Journalistin der Berner Zeitung, dort zuletzt als Kulturreporterin und Tagesleiterin tätig.

Wenn sie nicht gerade auf Stör ist, be­findet sich die Redaktion der Hauptstadt in einer Zwischennutzung beim Eigerplatz. «Sie soll preiswert und einfach eingerichtet sein, damit wir es uns leisten können, auch mal an einem anderen Ort zu arbeiten», sagt Bolzli. «Und weil wir als Redaktion klein sind, sind wir sehr agil.»

Dialog pflegen. Die Auseinandersetzung, die das physische Vor-Ort-Sein mit sich bringt, merke man den Texten an, ist Joël Widmer, Mitbegründer der Hauptstadt, überzeugt. «Sie haben mehr Tiefgang.» Rauszugehen, Journalismus vor Ort zu betreiben, das sei seine Grundhaltung. «So macht man meinem Verständnis nach heute Journalismus.» Widmer war unter anderem als Bundeshausredaktor für die SonntagsZeitung und als Co-Politikchef der Blick-Gruppe tätig.

Die Hauptstadt versteht sich als Antwort auf die Verlagskrise und auf den «Einheitsbrei in Bern».

«Wir wollen nah bei den Leuten sein», ergänzt Bolzli. Sie spricht von Verpflichtung der Leserschaft gegenüber – die Hauptstadt soll schliesslich werbefrei bleiben und sich allein aus den Abonnements finanzieren können. Nicht nur inhaltlich, sondern auch strukturell ist ihnen Nahbarkeit wichtig und ein klarer visueller Auftritt. «Wir sind darauf angewiesen, dass die Abonnentinnen und Abonnenten ihr Abo nach einem Jahr wieder erneuern.» Dass sie das nur tun, wenn das Produkt überzeugt, ist selbsterklärend. Durch Anlässe sollen die Abonnenten-Beziehung und der Dialog mit der Leserschaft zusätzlich gepflegt werden.

Zweite Stimme. Ausschlaggebend für die Gründung der Hauptstadt war die Ankündigung von Tamedia im Oktober 2020, die Lokalredaktionen von Bund und Berner Zeitung (BZ) per Herbst 2021 zusammenzu­legen. Gemeinsam mit Jürg Steiner, ebenfalls viele Jahre für die BZ tätig, gründeten Marina Bolzli und Joël Widmer kurz darauf den Verein «Neuer Berner Journalismus». Ihr Ziel: «Im Grossraum Bern eine zweite Stimme sein», so Bolzli. «Aus zivilgesellschaftlicher Sicht ist die Vielfalt wichtig. Hier fängt Demokratie an.»

Nun beliefert die Hauptstadt aktuell bereits 3680 Abonnentinnen und Abonnenten mit Reportagen, Recherchen und Kolumnen. Und dreimal wöchentlich verschickt sie den «Hauptstadtbrief», einen Newsletter, in dem Themen, Trends und Geschichten der Region Bern zusammengefasst und eingeordnet werden.

«Wir wollen nah bei den Leuten sein»: Blick in die Redaktion der Hauptstadt.

«Wir wollen nah bei den Leuten sein»: Blick in die Redaktion der Hauptstadt.

Die Vision? «Im Kern wollen wir ein neues Geschäftsmodell für Journalismus etablieren», so Joël Widmer. Fernab von Profitorientierung und Rendite. «Wir sind ein leserinnenfinanziertes Medium und wollen mit dem Jahresabo die Leute motivieren, für Qualitätsjournalismus Geld zu bezahlen.» Innerhalb von vier Jahren soll die Hauptstadt selbsttragend sein, die ­jetzigen 400 Stellenprozente sollen auf 500 erhöht werden. «Das bedeutet 5000 Abonnements pro Jahr.»

Gegen den Einheitsbrei. Die Hauptstadt versteht sich als Antwort auf die Verlagskrise – «und auf den Einheitsbrei in Bern». «Wir sind an einer Lösung orientiert, nicht an der Problembewirtschaftung», hebt Widmer hervor. Bolzli fügt an: «Es braucht neue Modelle. Mit der Hauptstadt wollen wir ein Modell entwickeln, das zukunftsfähig ist.»

Zukunftsfähig heisst in diesem Fall auch online. Denn: «Print lässt sich nicht finanzieren. Das ist Realität.» Jedenfalls, sofern man einen Newsanspruch habe. Dennoch sei die Hauptstadt keine ins Internet transferierte Zeitung. Vielmehr gehe es darum, neue Formate auszuprobieren und diese, sollte die Nachfrage ausbleiben, auch wieder einzustellen.

Ein grosser Gewinn beim Aufbau der Plattform sei das Zusammenspannen mit anderen «zukunftsgerichteten» Medien wie etwa Bajour in Basel oder Tsüri und Republik in Zürich. «Wir durften von einem sehr offenen Austausch profitieren, jenseits eines Konkurrenzdenkens.» Im Gegenteil, ein Zusammenspannen sei hier von allen Seiten erwünscht. Insofern versteht sich die helle Fahne im Wind vielleicht sogar als gehisstes Segel: Auf zu neuen Ufern.

Ihr Kommentar

Bitte füllen Sie alle Felder aus.
Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

* = erforderlich

Sicherheitscode *