Aktuell – 08.05.2013

Kein Quoten-Doping für die TV-Branche

Das Hin und Her um die blockierten TV-Daten aus dem neuen Mediapulse-Messsystem treibt merkwürdige Blüten: Im April diskutierte die Branche gar, wie sie sich selbst und die Werbeauftraggeber überlisten könnte – mit einer künstlichen Anhebung der Quoten. Von Markus Knöpfli

Offiziell suchte die Branche unter Führung der TV-Vermarkter Goldbach Media und Publisuisse nach einer «Übergangslösung» oder «Konvention» – mit dem Ziel, die baldige Freigabe der Daten zu ermöglichen. Folgende «Konvention» wurde an mehreren Meetings diskutiert und schliesslich auch den Werbeauftraggebern unterbreitet: Rückwirkend per 1. Januar 2013 und bis zum 31. Dezember 2013 sollte die vom Mediapulse-Panel gemessene Nutzungsdauer bei allen Sendern und Zielgruppen um einen Faktor x künstlich erhöht werden. Dieser sollte durch die Branche bestimmt werden, dem Vernehmen nach war aber von einer Erhöhung der Nutzungszeit um etwa 20% die Rede.
Die Folge einer solchen Aktion: Die Sende-Ratings würden steigen und sähen insbesondere bei den privaten Sendern ähnlich hoch aus wie unter der alten Messung. Das wiederum sollte jene Sender und Vermarkter finanziell entlasten, die ihren Kunden eine Leistungsgarantie (siehe unten) auf Basis der alten Werte versprochen hatten.

Zwei klare Nein. Eine «Konvention» setzt voraus, dass ihr alle Marktpartner zustimmen. Doch am 16. April stellten sich die Werbeauftraggeber quer. Logisch, sie profitieren von der Leistungsgarantie. «Es war leider im Interesse unserer Mitglieder nicht möglich, diese Konvention mitzutragen», sagte Roland Ehrler, Direktor des Schweizer Werbeauftraggeberverbandes (SWA), auf Anfrage. Ebenfalls Nein sagte die Interessengemeinschaft Elektronische Medien (IGEM), die als Vertreterin der Mediaagenturen einbezogen war. IGEM-Präsident Stephan Küng: «Wir Mediaagenturen handeln in erster Linie im Sinne unserer Kunden.» Man habe sich deshalb wesentlich am Nein des SWA orientiert. Die klarsten Worte aber fand der BSW, der Verband der grossen Werbe- und Mediaagenturen, der nicht in die Diskussion involviert war. Am 24. April forderte er per Communiqué die rasche Freigabe der TV-Quoten unter vier Bedingungen. Eine davon: «Die veröffentlichten Zahlen müssen den effektiv erhobenen Messdaten entsprechen. Taktische Zahlenanpassungen und -manipulationen sind zu unterlassen.» Eine unmissverständliche Absage an die «Konvention», und mit der Formulierung "Manipulation" eine deutliche Warnung.

Schmach abgewendet. Mit dem Nein wurde zweifellos eine weitere Schmach von der Schweizer TV-Branche abgewendet. Dessen ist man sich bei Publisuisse und IGEM offenbar bewusst. «Schwierig zu sagen, wie das europäische Umfeld reagiert hätte», schreibt Publisuisse-Direktor Martin Schneider auf Anfrage. Und er gesteht: «Auf den ersten Blick wäre die Logik des Vorschlags schwierig zu vermitteln.» Gar mit einer «Konsternation – international und auch in der Schweiz» hätte Küng (IGEM) gerechnet. Doch auch er ist der Meinung, dass der Vorschlag bei genauerer Betrachtung «nicht nur absurd» erschienen wäre. Immerhin gehe es beim Medium TV um die Einführung einer neuen Währung – und dies ohne Übergangsphase. Deshalb hätten die Sender im Vorfeld gar nicht gewusst, was sie anzubieten haben. Küng: «So wurden quasi Birnen verkauft, aber Äpfel geliefert.»
Gar keine Sorge um den Ruf der Schweizer TV-Branche scheint man dagegen bei Goldbach Media zu haben. CEO Alexander Duphorn, der die ganzen Gespräche leitete, geht davon aus, «dass jeder, der sich mit der Problematik im Detail auseinander gesetzt hätte, (…) dieses Vorgehen begrüsst hätte.»

Offenes Gespräch statt fixe «Konvention». Da es sich bei der vorgeschlagenen Übergangslösung um den Versuch der Sender und Vermarkter handelt, die Leistungsgarantie abzufedern, stellt sich die Frage, weshalb sie überhaupt den Weg über die Datenmanipulation wählten. Wäre es nicht erfolgversprechender und einfacher gewesen, die Werbeauftraggeber zu bitten, auf einen Teil der Leistungsgarantie zu verzichten?
Küngs Antwort ist kurz und knapp: «Berechtigte Fragen. Diese kann aber nur von den Initianten beantwortet werden.» Publisuisse und Goldbach verweigerten jedoch die Antwort. Duphorn antwortete gar nicht und Schneider hielt nichts von «weiteren Spekulationen».
Und wie hätte der SWA auf eine solche Anfrage reagiert? Man hätte eine offene Diskussion einem konkreten Lösungsvorschlag sicherlich vorgezogen, teilte Roland Ehrler mit. «Die Diskussion verschiedener Optionen hätte vielleicht eher eine akzeptable Lösung im Interesse unserer Mitglieder versprochen», fügte er an.

Der Wissenschaft verpflichtet. Und was sagt man bei der Forschungsstiftung Mediapulse zur «Konvention»? Sprecher Nico Gurtner betont, dass man eine Manipulation der Daten nicht zulassen würde. Mediapulse sei gesetzlich verpflichtet, die TV-Nutzung nach wissenschaftlichen Kriterien zu messen. «Was aber der Werbemarkt nach Auslieferung der Daten mit diesen macht, liegt in dessen Ermessen, solange dies einstimmig und transparent geschieht», sagt er. Mediapulse biete deshalb Hand für Lösungen und sei auch beratend an den Gesprächen dabei gewesen. Er bestätigte aber, dass die Idee zur «Konvention» an einer Sitzung des Mediapulse-Verwaltungsrats entstanden sei, jedoch eher zufällig, weil das Gremium primär aus Branchenvertretern bestehe und diese sich aktuell bei jeder Gelegenheit über dieses Thema austauschen. Fälschlicherweise sei dadurch der Eindruck entstanden, die «Konvention sei ein Projekt oder Auftrag von Mediapulse. «Dies ist aber nicht der Fall», sagte Gurtner.

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Stichwort Leistungsgarantie
Mit der Leistungsgarantie verspricht der Sender dem Werbekunden pro Werbeblock eine bestimmte Anzahl Zuschauer. Die Garantie basiert jeweils auf Erfahrungswerten früherer Blöcke, die vergleichbar platziert waren. Wird nun die prognostizierte Zuschauerzahl in einem Werbeblock deutlich unterschritten, ist dem Kunden eine Entschädigung garantiert – in Form von Gratisschaltungen (Freespace), nachträglichen Rabatten oder Rückerstattungen. Da viele Sender im neuen Messsystem mit etwas höheren Quoten rechneten, gewährten sie im ersten Halbjahr 2013 grosszügige Leistungsgarantien. Doch die Quoten fielen teils deutlich tiefer aus als vorher, weshalb die Sender in finanzielle Nöte kamen.

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Der Hintergrund zur Quoten-Aufregung – im folgenden Text:

Wo ist eigentlich das Quoten-Problem?
Ein Überblick von Philipp Cueni.

Viel Aufregung, viel Lärm um die neue Messung der TV-Quoten. Vor allem Dominik Kaiser mit TV 3+, welcher mit superprovisorischen Verfügungen die Publikation der Daten zu verhindern versucht, und einige Exponenten der Regional-Sender fallen durch lauten Protest auf. Spricht man mit Leuten der Branche, dann stellt man eine erstaunliche Gelassenheit und sogar Einigkeit fest – sogar bis in die Szene der Regional-Sender. Klar sei unbefriedigend, dass die neuen Zahlen teils massiv tiefer seien als die bisherigen. Auch die Unsicherheit und die Blockade der aktuellen Quoten seien nicht optimal. Aber es wird nüchtern analysiert: Die Resultate der beiden Mess-Systeme liessen sich nur schwer vergleichen. Aber offenbar seien die Zahlen des alten Systems oder aber die aktuellen ungenau. Wer also, nur weil die neuen Zahlen "schlechter" sind, die alten Zahlen als "korrekter und richtiger" beurteilt, macht sich das eindeutig zu einfach.

Kaum Zweifel am System. Ausser Kaiser zweifelt kaum jemand daran, dass das neue Mess-System korrekt arbeitet. Der Paneltreiber Kantar Media hat weltweit Erfahrung. Und externe Expertisen haben bestätigt, dass das neue Panel repräsentativ zusammengesetzt ist. Die Experten schlagen lediglich kleinere Optimierungen vor. Und auch in der Branche selbst setzt die Mehrheit auf eine optimalere Einstellung des neuen Systems. Eine solche Optimierung würde primär der Beseitigung von Zweifeln dienen. Aber die Quoten jener, welche mit dem Resultat unzufrieden sind, würden dadurch kaum beeinflusst oder gar "verbessert".

Thema Panelgrösse. Manche Branchenvertreter orten die Schwäche der Messung nicht beim neuen System, sondern bei der Panelgrösse. Für viele Regional-TVs seien die Stichproben zu klein. Tatsächlich stehen beispielsweise im Sendegebiet von Tele Basel nur etwa 100 Haushalte unter Messung, die die ganze Nordwestschweiz repräsentieren. Sender mit kleiner Stichprobe weisen entsprechend grössere Quotenschwankungen auf. Für Sender mit sprachregionaler Ausstrahlung (SRF, ausländische Sender, 3+) gilt das hingegen nicht, weil das Panel für diese deutlich höher definiert ist. Der Sender 3+, dessen Chef Dominik Kaiser am vehementesten gegen die neuen Zahlen protestiert, kann also das Argument mit der zu kleinen Stichprobe nicht geltend machen.
Das Thema "Panelgrösse" ist aber gar nicht neu. Beim alten Panel, das ähnlich viele Messhaushalte umfasste, bestand schon dasselbe Problem. Das gemessene Zuschauerverhalten zeigte gerade bei den kleineren Regional-TVs schon immer starke Schwankungen. Das ergibt alles in allem eine relativ hohe Ungenauigkeit. Auch das ist nicht neu: Der "Vertrauensbereich" der Zahlen hatte bei einigen Regional-TVs schon früher eine hohe Schwankung von 50-60% – im Vergleich zu einem stabileren einstelligen Wert bei SRF.
Eine mögliche Lösung wäre also die Vergrösserung der Panels. Die Zahl der Panelhaushalte war schon lange vor der Systemumstellung bekannt und von der Branche explizit so gewünscht. Ein grösseres und repräsentativeres Panel war gerade für die kleinen Sender aus Kostengründen keine Option, genauso wenig wie die Idee, altes und neues System eine Zeit lang parallel zu fahren.

Repräsentativere Haushalte. Aber wie sind denn die unterschiedlichen Resultate zu erklären? Ein Faktor ist: Das neue Panel ist anders zusammengesetzt. Beim neuen System werden die Haushalte breiter erfasst. Nicht mehr aus dem Telefonbuch, sondern Kantar Media nimmt neu das umfassendere Adressverzeichnis der Post als Basis für einen erste briefliche Anfrage an mögliche Mess-Haushalte. Und neu wird auch unter Messung genommen, wer via PC und Laptop fernsieht. Die Folge: Das neue Panel scheint repräsentativer. Und die Grundgesamtheit der erfassten möglichen Zuschauer vergrösserte sich um etwa 25 Prozent. Weil das Total des möglichen Publikums also um ein Viertel wuchs, nicht aber die Grösse des Panels, repräsentiert einer der weiterhin knapp 1900 Messhaushalt nun grob gesagt auch 25% mehr Personen. Ein Haushalt, in dem ein bestimmter Sender nicht konsumiert wird, «drückt» also die Quoten dieses Senders stärker nach unten als zuvor.

Enttäuschte Hoffnungen. Das Daten-Debakel hat also kaum mit wissenschaftlichen Fehlern zu tun, sondern viel mit Psychologie und mit enttäuschten Hoffnungen. An einer Tagung sprach man gar von "Religionskrise". Der Glaube an die einheitliche Währung der Quoten ist erschüttert. Und die Sender und Vermarkter hatten vor der Systemumstellung mit generell "höheren" Quoten gerechnet, weil genauer gemessen und zusätzlich auch die Zuschauer über das Internet erfasst würden. Aber Personen, die über das Internet und auch zeitversetzt fernsehen, gehören meist zur stark aktiven Bevölkerung – und nutzen das Medium TV deshalb kürzer und gezielter als der "klassische" TV-Zuschauer. Nicht das Total, aber die Quote der Zuschauer geht damit also zurück.

Vertrauen ist zentral. Gerade heute, wo der Werbe-Auftraggeber auch Werbemöglichkeiten im Internet prüft und sich das Zuschauerverhalten zunehmend differenziert, nimmt der Bedarf an beglaubigten Nutzungsdaten eher zu. Die Sender und die Agenturen sind darauf angewiesen, sich über eine gemeinsame, vergleichbare und glaubwürdige Währung gegenüber der Werbewirtschaft auszuweisen. Mehrheitlich hört man deshalb: Der ganze Wirbel schade der Branche, die eigentlich das Vertrauen der Werbekunden nötig hätte. Viele Branchenvertreter äussern sich skeptisch zum Verhalten von Dominik Kaiser. Ein grosser Teil der Branche geht davon aus, dass sich die Sache bald beruhige und alle Sender bald wieder zu Mediapulse zurückkehren dürften – auch jene Regional-TVs, welche den Ausstieg bei Mediapulse angekündigt hatten und angeblich ein anderes System evaluieren.

Einige Regional-TVs überlegen sich, zusätzlich eigene Marktstudien mit repräsentativen Befragungen des Publikums im eigenen Sendegebiet durchzuführen. Auch das ist nicht neu: Allerdings: Genauer sind diese Daten nicht unbedingt, aber anders. Die Sender erhalten so nicht nur Hinweise über die Akzeptanz ihres Senders in der Region, sondern auch qualitative Informationen für ihre Programmplanung. Und dafür – also nicht nur für die Werbeauftraggeber – sind die qualitativen Auswertungen der Quotenerhebung ja auch da: für die Orientierung der Programm-Macher über ihr Publikum. Welches Publikum schaut wann was, welche Sendung kommt bei wem wie an?
Mitarbeit: Markus Knöpfli

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