Röstigraben – 10.03.2020

Mary Vacharidis: Das Ende des Bankgeheimnisses macht die Unterschiede deutlich

Mary Vacharidis schreibt aus Zürich für das französischsprachige Magazin Bilan.

Was für die Gastronomie gilt, stimmt auch für die Wirtschaft: Romands und Deutschschweizer leben nicht im gleichen Land. Natürlich teilen sie zahlreiche gemeinsame Werte: den Innovationsdrang, den Hang zu gut verrichteter Arbeit, die Konsenskultur. Doch das ungleiche Wesen der beiden Sprachregionen führt zu deutlich unterschiedlichen Schwerpunkten in der Presse. Im Rahmen des Wirtschafts-Booms in der Genferseeregion und ­
mit dem ausserordentlichen Aufschwung der ETH Lausanne be­vorzugen Westschweizer Medien Themen wie Unternehmertum, Start-ups und wissenschaftliche Fortschritte. Die Regionen Zürich ­und Basel, die eine Mehrzahl von SMI-Firmen (Swiss Market Index) beheimaten, folgen ihrerseits eher Firmen wie der Zurich Insurance Group, Swiss Re, Clariant oder Syngenta. Konzerne, die die Romandie zum Gähnen bringen.

Neben Industriegiganten beheimatet die Deutschschweiz zahlreiche mittelgrosse Unternehmen, die in ihren Bereichen weltweit führend, aber auf der anderen Seite der Saane wenig bekannt sind. Die Medien sind begeistert von den Aufzügen der Firma Schindler im Kanton Luzern, den mechanischen Schliesssystemen der in der Region Zürich ansässigen Firma Dormakaba (früher Kaba) oder den Komponenten der Georg Fischer Auto­mobilindustrie mit Sitz in Schaffhausen.

Das Ende des Bankgeheimnisses hat die Unterschiede zwischen den Sprachregionen veranschaulicht. Aus Genfer Perspektive war der Privatbanken-Sektor das erste Opfer des automatischen Informationsaustausches. Aus Zürcher Perspektive waren es die Ambitionen von UBS und Credit Suisse auf internationalem Parkett, die von kämpfenden US-Gerichten begraben wurden. Nestlé ist ein Sonderfall, weil das Unternehmen Romands und Deutschschweizer gleichermassen fasziniert und verbindet. Die Zürcher Presse will ein Publikum von Investoren ansprechen und konzentriert ihre Artikel auf Kennzahlen, Renditen und Börsenkurse von Nestlé. Je mehr wir uns dagegen dem Sitz von Nestlé in Vevey nähern, desto mehr wird Nestlé als Arbeitgeber wahrgenommen. In Avenches, im Norden des Kantons Waadt, verkörpert die Nespresso-Fabrik den globalen Nahrungsmittelmulti. Welche Person aus der Romandie hat kein Familienmitglied oder einen Bekannten, der nicht in diesem Unternehmen arbeitet? Nestlé ist zwischen Romands und Deutschschweizer Geschäftsleuten immer ein gutes Gesprächsthema.

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